Kreidebleich ist der junge deutsche Ökonomieprofessor in dieser dunklen Tropennacht in Schwarzafrika. Schweiss steht ihm auf der Stirn. Die drei Männer waren völlig überraschend gekommen, hatten zweieinhalb Kilo Gold ausgepackt und erwartet, dass der Weisse jetzt kaufen würde. Es war von Hand geschürftes Gold, irgendwo im Norden von Côte d'Ivoire in gerodetem Dschungelland hervorgekratzt aus diesen Lehmlöchern, in denen bei fast jedem Regenfall Menschen sterben. Das Gold war geklaut oder von den Goldschürfern an den Minenbesitzern vorbeigeschmuggelt worden. Für alle sauberen Abbauweisen war es viel zu billig. Vor kurzem hatte man dem Deutschen das Gold angeboten. Ehrmann, der sich durch den verblüffend geringen Preis eine satte Marge beim Weiterverkauf erhoffte, hatte generell Interesse bekundet. Man missverstand das. Drei Männer mieteten ein Auto und brachen auf. Am frühen Abend hatte Ehrmann einen Anruf empfangen: Voilà, man sei hier mit der Ware. Der verblüffte Ehrmann lud in seiner Not die drei unbekannten Goldverkäufer zu sich ins Haus. Er wollte ja kaufen, konnte aber nicht. Alle vier sassen eine Weile unschlüssig in der kleinen Sitzgruppe auf Ehrmanns Veranda. Nachts ist es während der Regenzeit in Abidjan rund dreissig Grad, stark bewölkt und sehr feucht.
Die Stimmung wurde immer angespannter. Dann forderten seine Besucher 250 000 CFA-Francs, rund 500 Franken für ihre Reisekosten.
Ehrmann konnte nicht zahlen. Sein Konto war leer. Er nahm alles, was er hatte, aus seiner Geldbörse. 30 000 Francs. Ehrmann war blank, und seine Besucher erkannten das. Die drei nahmen sein allerletztes Geld und verliessen ihn wütend. Sie hatten hier in diesem Haus voller Bücher über Management, Habermas und gerechten Handel einen Weissen getroffen, der kein bisschen Geld hatte. Einen, wie sie nicht wissen konnten, in Harvard ausgebildeten Marketing-Professor und Experten für Wirtschaftsethik, der eine Dissertation verfasst hatte zu Unternehmensverantwortung in globalen Wertschöpfungsketten, der in renommierten Journalen über Wirtschaftsethik publiziert hatte, der ausserdem einen MBA einer anerkannten Hochschule besass, sich bei Morgan Stanley in der Praxis ausprobiert hatte und nach den ganzen neun Jahren Studien in der Schweiz, in Deutschland und den USA 2008 nach Côte d’Ivoire gekommen war, um in Afrika etwas Sinnvolles zu tun.
Vier Wochen zuvor hatte mich Lars Ehrmann noch von zwei persönlichen Assistentinnen am Flughafen abholen lassen. Zusammen mit zwei jungen schwarzen Schönheiten in Miniröcken und weit geöffneten Blusen düste ich durch die warme Nacht zu ihm ins bürgerliche Stadtviertel Cocody les Deux Plateaux. Um Afrika zu helfen, um «social impact» zu haben, so hatte mir Ehrmann vorab seinen Ansatz erklärt, müsse man teilhaben. «Man kann nur wirklich helfen, wenn einem das auch selber was nützt.» Ehrmann wollte vor Ort Geschäfte aufziehen, Profit machen, Arbeitsplätze schaffen, Armut beenden. Er hatte mir seine neuesten Businesspläne gesandt:
- Kunst: Profitabel via Web ivoirische Kunst verkaufen. Künstlern helfen.
- Müll: Recycling-Unternehmen gründen. Abidjan säubern.
- Mobilität: Handelskette für gespendete Fahrräder aufbauen.
- Bildung: Webbasiert Mikrokredite verleihen an ivoirische Studenten.
Für einen Monat nahm ich teil an Ehrmanns Leben. Als ich dann an unserem letzten Abend klingelte, war er ganz allein auf seiner Veranda. Um ihn herum meterhohe Mauern, darauf Stahlstacheln, darauf Nato-Draht-Rollen, die wiederum unter Strom standen. Gelbe Schilder warnten mit kleinen Totenköpfen vor Elektroschocks. Ich hatte Bier dabei. Die drei Goldverkäufer waren gerade gegangen. Der blonde Ein-Meter-achtzig-Mann, der auf seinen zahllosen Internetprofilen so korrekt gekleidet ist, trug ein T-Shirt und hatte sichtlich zugenommen. Um seine Augen zogen sich Sorgenfalten. Er trank, wie ich, in grossen Zügen.
Nach dem Doktorat an der HEC Lausanne hätte ich auch nach London oder sonst wohin als Berater gehen können. Mit 100 000 bis 150 000 Einstiegsgehalt. Aber ich fand das irgendwie bedeutungslos. Zurück nach Deutschland an die Uni wollt ich nicht mehr. Das Niveau ist einfach nicht hoch genug. Ich hatte ein Angebot als Postdoc an der IESE in Barcelona. Das ist eine der weltweit besten Wirtschaftsschulen. Aber ich wusste: Wenn ich da in diese Mühle reingehe, dann werde ich mein ganzes Leben lang in Europa bleiben.
Wenige Tage bevor bei Ehrmann die Goldhändler angeklopft hatten, hatte der deutsche Botschafter Karl Prinz den jungen Mann beim allwöchentlichen Deutschentreff beiseite genommen. Ob Ehrmann Hilfe brauche? Oder Geld? Er mache sich Sorgen. Der Botschafter hatte Ehrmanns Erzählungen wohl entnommen, dass der junge Unternehmer, als er wenige Monate nach dem Bürgerkrieg 2011 nach Côte d’Ivoire zurückgekehrt war, im Gegensatz zu all den Entwicklungshelfern und Mitarbeitern politischer Stiftungen auf eigene Faust, ohne «Trägerstruktur», gekommen war. Und seitdem zwar die halbe Elite des Landes getroffen, aber noch keinen «Deal» abgeschlossen hatte. Ehrmann lachte, als er mir von dem besorgten Diplomaten erzählte. Sein Vater hatte ihm gerade etwas geliehen. Davon hatte der 32-Jährige Waschmittel kaufen können. Und Essen. Die Miete, 300 000 Francs pro Monat, war dennoch seit Monaten nicht gezahlt. Die Kaution sei nun aufgebraucht, hatte seine Vermieterin gesagt. Die Haushälterin hatte die Aufgabe, die immer wieder an der Tür klingelnden Gläubiger abzuweisen.
Gehaltsmässig bin ich seitdem nicht besonders erfolgreich, das muss ich zugeben. Ich hab mich ja schon bei allem beworben, was Rang und Namen hat. Ich hab halt einen schon ziemlich bombigen Lebenslauf. Und einen sehr untypischen Lebenslauf, sowohl für einen Akademiker als auch für jemanden, der sich für einen traditionellen Job bewirbt. Weil, ich hab halt schon eine ganze Menge Unternehmen gegründet. Von vielen grossen Universitäten werde ich deswegen nicht eingeladen. Die denken: Der ist nicht richtig committed. Eine HEC-Professorin hatte diesen Kontakt zur Universität von Grand-Bassam. Die hat mich als Dozenten dorthin vermittelt.
In seiner Villa hat Ehrmann zwölf Computerarbeitsplätze. Fast jeden Morgen ab halb sieben fand ich ihn hinter seinem grossen Mahagonischreibtisch mit den zwei Flat-Screens. Meistens waren zwei bis drei jüngere Damen anwesend. Ehrmanns Mitarbeiter leisteten Freiwilligenarbeit, denn Ehrmann hatte sie im Mai alle entlassen müssen. Auftragsmangel. Nun konnten sie manchmal Kursunterlagen vorbereiten und dafür einen Teil seines Honorars bekommen. Meist vertrieben sie sich die Zeit auf Facebook oder Youtube.
Alles war total abgefahren. Wenn du zum ersten Mal in Afrika bist und gar nichts kennst. In so einem Dorf … Ich wusste ja am Anfang nicht mal, wie das mit den Verkehrsmitteln funktioniert. Du fährst ja hier mit diesen lokalen Sammeltaxis rum, diesen Woro-Woraus. Das sind ja so alte, abgewrackte Autos. Da fragst du dich: Wenn dir was passiert, wo rufst du an? Ich hab mich ganz am Anfang nicht getraut, allein ins Dunkle zu laufen. Ich bin dann im Hotel geblieben und hab viele Filme geguckt. «Star Wars» und so ’nen Scheiss. Die Uni ist total schlecht organisiert, total beschissen. Am Anfang hatte ich nicht mal ein Büro. Als guter Deutscher hab ich mich ziemlich aufgeregt. Ich dachte: Wollen die mich verarschen? Ich hab dann irgendwann gemerkt, dass keiner mir helfen kann. Ich hatte 10 bis 12 Studenten. Die hatten voll Angst vor mir. 18- bis 22-Jährige, total schüchtern. Ich, so ein Weisser mit Doktortitel. Die waren total lieb. Ich bekam Lust, da was zu machen. Bist ja nicht umsonst hierhergekommen.
Ehrmanns Arbeitsalltag besteht im Anbahnen von Möglichkeiten. In knappen E-Mails in Englisch und langen Telefonaten in hartem, bellendem Französisch versucht Ehrmann, Geldgeber und Entscheidungsträger für sich zu gewinnen. Er versendet rastlos E-Mails mit Projektvorschlägen und Kontaktanfragen auf dem Businessnetzwerk Linkedin. Ein- bis zweimal am Tag eilt er auf Konferenzen oder Meetings mit wichtigen potenziellen Partnern, denen er sich als Berater, Lehrer und Professor, Projekt-Initiator oder auch Handelspartner vorstellt. Ehrmann arbeitet mit allen und auf allen Seiten. Er schlägt der Bill-und-Melinda-Gates-Foundation vor, in sein Recycling-Unternehmen einzusteigen (die Antwort versank leider monatelang im E-Mail-Eingang), er fragt die deutschen Entwicklungshelfer von der GIZ um Unterstützung einer Wirtschaftskonferenz (barsche Ablehnung mit Hinweis auf fehlerhafte Links im Anschreiben) oder bietet sich der Ölfirma Petroci als Trader an (Antwort steht aus).
Ich hatte mich ja in der Schweiz mit meinem Professor verkracht wegen unseres Startups. Ich fühlte mich so richtig gelinkt. Volle Linie. Deswegen wollt ich ja auch weg aus der Schweiz. Ich hatte so einen Hass auf all das. Afrika: Das war weit weg von allem, da konnte ich mich mental erholen. Was ganz anderes machen, nicht mehr über diesen Scheiss nachdenken, mich um Leute kümmern, die viel elementarere Probleme haben als ich mit meinen abgehobenen Träumen. Jetzt konnte ich einfach mal nachdenken über diesen ganzen «bottom of the pyramid». Also Leute, die ganz unten sind, und was die für Probleme haben.
Die «Bottom of the pyramid»-Theorie des indischen Harvard-Professors und Beraters C. K. Prahalad fordert, die Ärmsten der Armen als einen grossen Markt mit riesiger Nachfrage zu verstehen. Prahalad, dessen These in den nuller Jahren weltweite Popularität erlangte, schien eine Alternative zu bieten zum Dilemma der Entwicklungshilfe, die entweder, wie beispielsweise die sambische Ökonomin Dambisa Moyo kritisiert, abgestellt werden müsse, weil sie den Ärmsten der Armen mehr schade als nütze – oder die erhöht werden müsse, weil bisher einfach nicht genug investiert worden sei, wie Moyos Professor, der US-Starökonom Jeffrey Sachs, gefordert hatte. Prahalads Ansatz entfachte einen Hype innerhalb der Wirtschaftsgemeinde: Hilfe durch Kapitalismus. Auch ich hatte mich in meinem Studium damit befasst.
Prahalad, das war einer von den ganz grossen Intellektuellen. Wie Muhammad Yunus. Der wusste: Der wirkliche Wert liegt darin, dass man Wert für andere schaffen kann. Wenn man das Leben anderer verbessern kann. Prahalad war natürlich auch ein hochbezahlter Berater. Aber der hat gesagt: Wenn man wirklich Sinn schaffen will für sich, muss man sich fragen: Wie kann ich das Leben verbessern von tausend Menschen, hunderttausend Menschen, einer Million?
Es war im Jahre 2000, in Oestrich-Winkel, in einem Unterrichtsraum der European Business School. Ein Vorstandsmitglied der damaligen DaimlerChrysler AG hielt einen Gastvortrag über International Management, und der Student Lars Ehrmann hörte Worte, die sein Leben verändern solllten: «Wenn ihr wirklich etwas erreichen wollt, müsst ihr eine wirkliche Herausforderung finden. Ein globales Problem, an dessen Lösung ihr arbeitet.» Ehrmann, aufgewachsen in einem sozialdemokratisch geprägten Lehrerhaushalt in Provinzstädtchen im Kölner Umland, fühlte sich schon lange eingeengt vom kleinbürgerlichen Egalitarismus seines Umfelds. Mutter, Vater, Stiefvater, Schwester, alle waren Lehrer geworden. Er wollte mehr. Aber niemand in der Familie schien sein Talent fördern zu wollen. Als Lars Ehrmann wünschte, auf einer privaten Wirtschaftshochschule mit Eliteanspruch zu studieren, bekam der Vater, ein Berufsschullehrer, einen Wutanfall.
Ich war der bestbezahlte Professor in Grand-Bassam. 36 000 Euro im Jahr. Ich fand das total niedrig. In den USA fängst du bei 80 000 an. Meine Kollegen waren schockiert. An der Uni hatte ich das Gefühl, ich sei in einer Sackgasse. Die haben mich eingeladen, haben gesagt, im November 2008 seien Wahlen. Dann kamen die Wahlen nicht, die wurden auf März verschoben. Und dann auf September. Da hab ich mir schon gedacht: Scheiss drauf. Genauso mit dem Hauptgebäude der Uni. Ich hatte ja geahnt, dass das alles nicht so funktioniert. Aber wie krass das werden würde, das hatte ich mir nicht vorstellen können. Ich musste also andere Leute finden, die irgendwas draufhaben. Ich war so richtig «local». Ich hatte nur Locals um mich rum, hab mir gedacht: Was kannst du mit denen machen? Was kannst du für die machen? Ich hatte Social-Entrepreneurship-Ideen im Kopf.
Seit Jahrzehnten taumelt Côte d’Ivoire von Putsch zu Krise. Die Hälfte der Einwohner des ehemaligen Vorzeigestaates ist arbeitslos, knapp vierzig Prozent leben unterhalb der staatlichen Armutsgrenze. Lars Ehrmann gehört zur neuesten Generation von Entwicklungshelfern, auch wenn er selber das niemals so beschreiben würde. Alle wirklich erfolgreichen Wirtschaftsprojekte beruhten seiner Ansicht nach darauf, dass sie Lösungen waren für soziale Probleme. Gemäss dieser integrativen wirtschaftsethischen Theorie sollten gute Unternehmen neben Profiten auch vorteilhafte gesellschaftliche Auswirkungen haben: «social impact». Das Streben nach Social Impact statt allein nach Profit erhob in den Augen Ehrmanns den Social Entrepreneur über den reinen Profitmaximierer. Gleichzeitig hätte der soziale Unternehmer, der selber in sein Unternehmen investiert hat, ein viel ernsthafteres Interesse am Gelingen seines Projektes als ein Entwicklungshelfer, dessen Mission nach ein, zwei Jahren beendet ist.
Es gibt diese Debatte, dass die Development-Leute zu den Social-Entrepreneurship-Leuten sagen: Ihr redet jetzt alle vom «bottom of the pyramid», aber was ihr da grade erkennt, das wissen wir doch schon lange. Da sagen die «Bottom of the pyramid»-Leute dann: Ja, richtig. Aber ihr habt das Problem nicht gelöst bekommen. Weil ihr die falsche Perspektive habt. Ihr wollt immer den Leuten helfen. Aber ihr denkt nicht drüber nach, wie man eigentlich den Eigeninteressen der Leute dienen kann. Ihr denkt immer nur: Ach, was sind die arm. Da gab es dann schlaue Leute, die haben gesagt: Im Prinzip haben beide Seiten recht. Es gibt echte Armut, aber die Entwicklungshilfe ist gescheitert. Wie kann man also die beiden Ansätze verbinden?
Immer öfter findet man in Entwicklungsländern Social Entrepreneurs, zunehmend treten sie in Konkurrenz zu Entwicklungshelfern. Die Entwicklungszusammenarbeit, 134 Milliarden US-Dollar im Jahr 2011, werde seit Jahren immer kleinteiliger, konstatiert die OECD. Immer mehr Projekte werden von immer mehr unabhängigen Aktivisten, Stiftungen und NGO initiiert. Gemeinsam jagt man nach Social Impact. Ehrmann sah sich dabei als Grosswildjäger.
Ehrmann selber schlägt sich mit vielen Problemen herum. Kaum ins Land zurückgekommen, versuchte er im Winter 2011, eine ivoirische Wirtschaftsdelegation für einen Trip nach Deutschland zu organisieren. Dort hatte er eine deutsch-ivoirische Konferenz in einem Schloss vorbereitet. Der teure Veranstaltungsort war gemietet, das Catering organisiert. Schliesslich trafen drei Ivoirer auf zwölf Deutsche. Die angekündigten Minister kamen nicht. Die ivoirische Handelskammer hatte auf Anfragen nicht einmal geantwortet. Und der auf Ehrmanns Einladungs-E-Mail als Förderer genannte deutsche Politiker forderte von Ehrmann gar eine öffentliche Richtigstellung, er habe die Veranstaltung nie unterstützt.
Yunus hat einfach Charisma. Leute wie er machen das, weil es einfach tief in ihnen verwurzelt ist. Durch Zufall oder Beständigkeit haben die Erfolg. Muhammad Yunus ist hingegangen und hat gesagt: Das muss ich selber machen. Das hat mich fasziniert. Ich hab mir gesagt: Das musst du selber machen. Und ob das jetzt in China oder Afrika ist, ist ja am Ende egal. Ich hatte immer die Idee, ich werd dabei nicht arm bleiben. Meine Stiefschwester ist Sozialarbeiterin. Ich will nicht als Sozialarbeiter enden. Da wollt ich nicht hin. Ich hab mir immer gedacht: Wenn du eine gute Sache machst, dann muss das auch Breitenwirkung haben. Du musst nicht Mutter Teresa sein, die irgendwo im Slum rumläuft. Du musst damit viele Menschen erreichen können. Du musst mit deinem Projekt auf einen echten Bedarf antworten. Ich fand immer Relevanz und Impact absolut essenziell.
Auf Ehrmanns Veranda sitzt Elaine Bellezza, eine amerikanische Unternehmerin, die jahrzehntelang westafrikanische Design-Produkte an Grosshändler und Modehäuser verkauft hatte und nun auf Kosten der amerikanischen Entwicklungshilfeagentur USAID in Ehrmanns Villa gekommen ist. Sie soll fähige Mittelsmänner heranbilden, die den Export afrikanischer Waren voranbringen sollen. Ehrmann hatte sie wegen seines Vorhabens kontaktiert, eine webbasierte Verkaufsplattform für afrikanische Kunst und Design-Produkte aufzubauen, auf der Privatpersonen, Galerien oder Dritte-Welt-Läden Produkte von ivoirischen Künstlern kaufen könnten. Später solle das Projekt auf ganz Westafrika ausgedehnt werden. Der Plan hatte zwei Preise gewonnen, darunter einen der amerikanischen Entwicklungshilfeagentur Technoserve. Ehrmann erklärt der zierlichen Frau, dass sein Projekt notleidenden Künstlern ein Einkommen verschaffen könne. Bellezza schüttelt den Kopf, als Ehrmann Batiktücher und Holzmasken hervorholt. Die Idee werde scheitern. Detailhandel aus Afrika sei zu kostspielig. Vielleicht solle Ehrmann es zudem mit erfolgversprechenderen Produkten versuchen.
Also, und dann hatte ich ja 2009 auch plötzlich eine schwangere Freundin in Grand-Bassam. Ich hab ’nen dreijährigen Sohn in Deutschland. Von einer Ivoirerin. Die hab ich während der Krise nach Deutschland geschickt. Gestern hab ich der noch ihr CV verfasst, damit die auch ’nen Job findet. Die unterhalt ich auch. Also, zusammen mit dem deutschen Staat. Klar, die ivoirischen Frauen find ich toll. Die sind total französisch-afrikanisch. Also nicht, dass ich nur deswegen hier wäre. Es ist auch das, was man Calling, Bestimmung, nennt. Nicht nur Côte d’Ivoire. Ganz Westafrika. Das hier ist der Wilde Westen.
An einem Donnerstagabend führte mich Ehrmann durch die Zone 4, ein schickes Stadtviertel Abidjans. Hier gibt es ein paar Malls, breite Strassen, klimatisierte mehrstöckige Appartementhäuser und Bars nach westlichem Geschmack. Nirgendwo sind die Drinks so teuer wie hier. Nirgendwo sind so wenig Schwarze. Gegen ein Uhr nachts führt mich Ehrmann ins «St. Germain». Es läuft House. Der Klub ist voll mit langbeinigen schwarzen Frauen in sehr knappen oder sehr durchsichtigen Kleidern. Die Frauen wippen vor Spiegelwänden mit ihren Hüften und reiben sich an einigen dicken Expats, die ihnen Drinks spendieren. Ehrmann zieht mich zu einer Sitzgruppe am hintersten Ende des Klubs. Er stellt mir eine kleine Gruppe lasziv blickender Mädchen vor. Eine schlanke Gazelle mit auffällig geschlitzten Leggins und bauchfreiem Oberteil sei die Lebenspartnerin des Klubbesitzers. Und eine gute Freundin von Ehrmann. Und das hier sei ihre Cousine. Die Cousine trainiert milde lächelnd vor mir Hüftbewegungen, die gut zu ihrem Minirock passen. Ehrmann verschwindet mit einem der Mädchen auf der Tanzfläche.
Was ich heute mache, ist immer noch klein, aber ich hab das Gefühl, ich komm allmählich auf die Schiene, wo es hingehen soll. Aber ich hab dann zwischendurch regelmässig Anfälle. Wenn ich wieder les, dass Freunde einen Hedge-Fund managen. Ich hab drei Freunde, die wirklich so richtige Hedge-Funds managen. Die machen die Multimillionen. Ich war nie der Schlauste. Aber ich war immer oben dabei. Also meine Million, die könnt ich eigentlich auch machen. Mach ich aber nicht. War das also eine gute Wahl?
Schon am zweiten Tag meines Besuches hatte Ehrmann mich auf drei Konferenzen nacheinander mitgeschleift. Er hetzte von den Google-Days zur Handelskammer, dann zum Golf-Hotel, in dessen luxuriösen Anlagen sich während des Bürgerkriegs der jetzige ivoirische Präsident Alassane Ouattara versteckt hielt. Der Transportminister war erschienen, wichtige Politiker waren da. Mittendrin Ehrmann. Ich sollte ihn mit Tiken Jah Fakoly, einem der grössten Popstars Westafrikas, ablichten. Fotos für die Website, an der er seit Jahren bastelt, und auf der bis jetzt nur der Slogan zu sehen ist «Future Home of Something Quite Cool».
Für lokale Verhältnisse bin ich ja noch eine Ausnahme. Ich verdien meine 2 Millionen im Monat. Aber ab 10 Millionen fängt das an, dass ich mir sag: So hatte ich mir das vorgestellt. Ich kann jeden Abend weggehen, essen, ich hab Leute, die für mich arbeiten. Dann hab ich meine superhübschen Assistentinnen. Das macht das Leben ja auch schöner. Ich muss sagen, die Amara, die macht mich ja auch kirre. Ich weiss gar nicht, was ich mit der machen soll. Ihr Bruder ist verheiratet mit einer ehemaligen Praktikantin. Der hat zu mir gesagt: Nimm doch mal meine kleine Schwester. Die kam dann mal vorbei, und dann dacht ich mir: Scheisse! Was mach ich denn jetzt? Ich mein, die ist auch gar nicht dumm. Die kann auch Sachen. Aber man guckt halt ständig auf ihre Brüste. Die wäre die perfekte Marketing-Frau.
Ehrmann kämpft unermüdlich weiter. Im Laufe von vier Wochen präsentiert er mir 13 verschiedene Geschäftsfelder, in denen er aktiv sei. Ehrmann wollte ivoirische Kunst, Gold, Öl verkaufen, hatte hunderte ausgediente deutsche Ambulanzfahrzeuge im Angebot, wollte Wirtschaftsschulen aufbauen – doch noch hatte er keine Erfolge. Ausser im privaten Bereich. Abends empfängt er Mädchen. Manchmal auch mehrere.
Am Anfang hatte ich keine Ahnung, was die Frauen hier wollen. Ob die Prostituierte sind oder nicht, die wollen eigentlich alle dein Geld. Es gibt hier Männer, die haben gar keine Frau, weil sie kein Geld dafür haben. Und andere, die haben fünf Frauen. Das ist ein grosses Gerechtigkeitsproblem. In Grand-Bassam am Anfang, da hatte ich Angst. Ich hab mich gefragt: Haben die Aids, oder sind das Nutten, oder wollen die mein Geld? Dann fängt man an, den Geschmack zu entwickeln, an was für junge, hübsche Frauen man rankommt. Der erste Schock war so eine Frau, die erst mal lange nicht mit mir schlafen wollte, und dann wollte die plötzlich das Kondom wegreissen. Dann kommt die realistische Phase. Afrikanische Frauen sind es ja gewohnt, alles zu ertragen. Die sind ja sehr wohlerzogen und verzeihend. Cecille auch. Ich geb der halt auch ein bisschen Geld ab und zu. Nicht damit die was von mir will. Die ist eben unglaublich verliebt in mich. Ich nutz das auch gar nicht aus! Aber afrikanische Frauen, die sind das halt auch so gewohnt. Ich merk das halt langsam. Das ist eine Mentalität, ich sag: Mittelalter. Das gibt’s bei uns nicht. Für den Mann ist das mit Sicherheit besser. Das darfst du halt nicht so laut sagen. Die aufgeklärte europäische Frau haut dich, wenn du ihr das ins Gesicht sagst.
Wenn Ehrmann sich mit hochrangigen Ivoirern trifft, nimmt er meist eine seiner gut aussehenden Assistentinnen mit in den Finanz- und Verwaltungsdistrikt Abidjan Plateau. Ich folge Ehrmanns Credo. Einen Tag verbringe ich so mit einer jener Assistentinnen, die mich vom Flughafen abholten. Ohne geprüft zu werden, passieren wir die Sicherheitsschranken des Wirtschaftsministeriums, fahren hoch zu den maroden Büros einflussreicher Staatsdiener, um mit diesen die Lage des Landes zu diskutieren. Auf dem Rückweg erzählt mir die Assistentin, wie sehr sie hoffe, das bei Lars die Geschäfte anlaufen würden. Sie sei die Letzte der Familie, die noch im Lande sei. Nach den Wahlen seien die meisten geflüchtet. Ihre Eltern, die geblieben waren, seien kürzlich umgebracht worden. Sie suchte Arbeit, fand den Posten bei Lars. Ich ahne, sie hofft, der Weisse könne ihr aus dem Schlamassel helfen.
Einmal war ich mit Cecille aus. Ich hatte aber davor einem Mädel, mit dem ich früher ausgegangen war, gesagt: Lass uns uns doch mal wiedersehen. Dann klingelte die am Sonntagmorgen bei mir und stand in der Wohnung. Ich so: Scheisse. Die: Lass uns doch gleich noch so’n bisschen … Ich: O nee, ich bin müde. Sie: Kein Problem, dann können wir ja noch ein bisschen schlafen. Ich schau sie an und denk mir: Du Arsch. Du weisst genau, was hier abläuft. Das wusste die auch. Die wollte halt wissen, wer in meinem Bett liegt. Dann hat die angefangen, mich anzuschreien. Ich musste also in mein Zimmer, und da schlief die Cecille. Und ich musste die wecken und sagen: Cecille, da ist eine Frau, und die macht Stress. Ja wie? Du musst Dich jetzt anziehen. Dann hab ich ihr gestanden, dass ich mal was mit der anderen hatte, dann war die halt auch traurig und hat angefangen zu heulen. Ich wollte, dass die beiden gehen. Stattdessen sassen sie zusammen in meinem Wohnzimmer und haben sich gegenseitig erzählt, wie scheisse Männer sind. Ja. Effekt? Gar keiner. Konsequenz? Gar keine.
Ich reise in den Westen des Landes, Rebellengebiet. Tagelang sehe ich keine Weissen ausser jene in den makellosen Jeeps grosser Entwicklungshilfeorganisationen. Der Tourismus, früher eine wichtige Einnahmequelle des Landes, liegt darnieder. In der Frontscheibe eines Busses, in den ich steige, sind runde, kleine Löcher. Einschusslöcher in einem deutschen Auto. Hunderttausende Waffen zirkulieren in Côte d’Ivoire. Die Zukunft des Landes ist in der Schwebe.
Die klapprigen Busse ohne feste Abfahrtszeit und ohne festes Fahrtziel heissen Massas. Die Fahrer versprechen jedes Fahrtziel und nehmen jeden mit. Einzig die Tarife sind fix, je nach Ziel. Der Bus startet, wenn er voll ist. Wohin er aber wirklich fährt, entscheidet der Fahrer nach der Abfahrt. Aufgabe des Beifahrers ist es dann, die Passagiere, welche Tickets für andere Fahrtziele gelöst haben, an Knotenpunkten abzusetzen und in einen nächsten Bus zu verfrachten. Das ist das System der Massas. Als ob sich jemand das Gegenteil eines Plans ausgedacht hätte. Aber das System funktioniert. Klar ist nur, man wird ankommen. Nur kann niemand im Vornhinein wissen, welche Route er nehmen wird auf seinem Weg zum Ziel. Ich muss an Lars Ehrmanns Roll-out-Pläne, die Präsentationen denken, die er mir zusandte. Eigentlich sollte Ehrmann bereits Dutzende Angestellte haben. Ob er das System verstanden hat oder mit seinen Plänen scheitert? Ich frage mich, warum er mir, dem Journalisten, alles so offen erzählte. Seine Ausbrüche, sein Scheitern. Brauchte er mich als Beichtvater? Fehlt ihm das Korrektiv, jemand, der ihn aus dem Dilemma zieht, wenn er in seinem afrikanischen Bus einen Unfall hat? Braucht jede Moral ihre soziale Umgebung?
Als ich hierhin kam, war ich nicht so. Ich mein, diese Umgebung hier ist verrückt. Du wirst verrückt. Nicht dass ich verrückt wär, aber du merkst einfach irgendwann, die Regeln sind einfach komplett anders hier.
Als ich im Westen des Landes in Man, der Stadt der 18 Berge, ankomme, sammelt sich in einer Bar eine Menschentraube um mich. Lange schon hatte man hier keinen Weissen mehr gesehen, denn von Reisen in die unsichere Region wird abgeraten. In dieser Nacht, im Hotel, fragt mich mein ivoirischer Begleiter, ob ich die zwei hübschen Mädchen, die uns ihre Nummern gegeben hätten, um mit uns wandern zu gehen, zum Affenwald und an die Wasserfälle, gerne jetzt im Bett hätte. Die würden auf jeden Fall kommen. Von einer so guten Partie wie mir, dem Weissen, davon würde jede Frau in Côte d'Ivoire träumen. Das klingt wie Lars. Ich liege eine Weile unter dem Moskitonetz und frage mich, ob das jetzt meine Chance ist. Oder meine Falle. Ich muss teilhaben. Niemand würde es mitbekommen, zu Hause. Ich sage ihm, er solle sie anrufen.
Wenn es sich darum dreht, global zu denken und lokal zu handeln, ist die Frage, die sich für mich stellt: Wie kann ich lokal handeln, ohne meine Werte zu verletzen?
Wir schweben in einem klimatisierten Jeep über Land. Links und rechts fliegen die Buden der verzweifelt auf Kunden wartenden Souvenirhändler und Kunsthandwerker vorbei. Hier, auf der Strasse zum Strand, hatte Lars Ehrmann seine erste Idee für den webbasierten Kunsthandel. Cecille ist mit dabei. Sie ist sehr hübsch. Volle Lippen, modische kurze Haare, schlank, ein ironischer Blick. 23 Jahre alt. Sie lacht fröhlich und schäkert mit Lars. Wir fahren durch Grand-Bassam, vorbei am Millenium-Dorf von Jeffrey Sachs, dem grossen Befürworter der Entwicklungshilfe, der mit einer Reihe von Modellsiedlungen in Afrika ein Vorbild für wirtschaftliche Entwicklung liefern wollte. Ausser einem Schild, das seit Jahren den Bau verkündet, ist nichts zu sehen.
Wenn die hier mal wirklich richtig loslegen. In 10, 20 Jahren … Ich will nicht in zehn Jahren zurückblicken und sagen, wenn ich den klassischen Weg gegangen wäre, dann hätte ich mit dem Geld, das ich da verdient hätte, viel mehr machen können. So wie die Expats, die sich hier was aufbauen, ein Restaurant, und dann zehn Leute anstellen oder so. Bevor ich hier gross sozial sein kann, muss ich mich erst mal als Geschäftsmann etablieren.
Cecille und Lars liegen umschlungen im Sand, die Wellen streichen über ihre schlanken Beine. Ich beneide Lars in diesem Moment. Lokal handeln. Die Mädchen in Man waren nicht gekommen. Ich war allein aufgewacht.
Deutschland kann von mir aus untergehen. Man muss sich, wenn man hier leben will, parallele Logiken aufbauen.
Lars lacht mich an: Ich glaube, Cecille ist mein kleines Entwicklungshilfeprojekt.
(Alle Namen von der Redaktion geändert.)