May 2, 2019

Viren für den Geist. Desinformation im EU-Wahlkampf.

Viele Politiker fürchten, dass Desinformationskampagnen im Internet die Europawahl beeinflussen könnten. Dabei gibt es solche Bedrohungen seit Jahrzehnten – ebenso wie mögliche Lösungen.

Die Lacher des Publikums waren Jan Böhmermann sicher, als er Ende März in seiner Satiresendung «Neo Magazin Royale» auf ZDF ein Video von Jean-Claude Juncker zeigte. Darin ist zu sehen, wie der EU-Kommissionspräsident einer blonden Frau – der EU Vize-Protokollchefin Pernilla Sjölin – durch die Haare wuschelt. Böhmermanns Kommentar: «Man darf Europa kritisieren – etwa dafür, Menschen im Mittelmeer ersaufen zu lassen. Oder, ähnlich grausam, für Jean-Claude Junckers Art zu flirten.»

Böhmermanns Redaktion hatte das Video des übergriffigen EU-Chefs im Internet entdeckt, es war am 14. Dezember 2018 auf der Website von Ruptly aufgetaucht, offiziell eine internationale Nachrichtenagentur. Das Video war ein Meme, einer jener Clips, die viral gehen, weil viele Menschen sie im Netz weiterverbreiten. Doch der Erfolg des Filmchens ist kein Zufall. Ruptly, deren Filmteam die Szene aufgenommen und verbreitet hat, gehört zum russischen Fernsehsender RT, ehemals Russia Today. Bezahlt wird der Betrieb vom Kreml. In den USA müssen sich RT-Mitarbeiter beim Justizministerium registrieren lassen. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron nannte RT einmal «Agenten der Einflussnahme».

Böhmermann ist nicht der Einzige, der den Clip zum Anlass genommen hat, Witze über Juncker zu machen. Auch andere Medien hatten ihn gezeigt, als stamme er aus einer normalen Quelle. Doch Ruptly und RT sind keine normalen Medien. Das Video der beiden russischen Agenten, die nach dem Attentat auf den englischen Agenten Skripal im Fernsehen beteuern durften, sie hätten sich am Tatort nur die Kathedrale anschauen wollen, lief bei RT. Ebenso die Desinformation zum Abschuss der Passagiermaschine MH17 über der Ukraine. Oder die erfundene Vergewaltigung einer Russlanddeutschen durch Migranten in Berlin. Ruptly übertrug die Pegida-Demonstrationen stundenlang und wurde dafür von Rechten im Netz gefeiert.

Dass es ein Video eines derartigen Mediums wenige Wochen vor der Europawahl Ende Mai zu Böhmermann in die Sendung schafft, ist nur ein kleiner Teil eines grösseren Problems. EU-Justizkommissarin Vera Jourová warnte im Februar vor «Desinformation und Einmischung aus anderen Ländern» und vor Massendesinformationskampagnen im Netz, die darauf abzielten, «Wahlen die Glaubwürdigkeit und Legitimation zu nehmen».

Warum ist nun das Juncker-Video bei Böhmermann überhaupt Desinformation? Juncker hat sich den peinlichen Auftritt ja tatsächlich geleistet und muss dafür natürlich mit Kritik rechnen. Genau darum geht es. Ruptly und RT führen mit solchen Clips das, was Experten als «Informationskrieg» bezeichnen, der Europa destabilisieren soll. Und verbreiten in Junckers Fall die Botschaft: Die Führung der EU ist übergriffig und rücksichtslos.

Viele sorgen sich, dass die Europawahl Ende Mai ähnliche Überraschungen bereithält wie die vergangene US-Präsidentenwahl oder das Brexit-Votum. Italiens Innenminister, der EU-Gegner Matteo Salvini, hat eine «Revolution» angekündigt, Trumps Ex-Stratege Steve Bannon verkündete im Juli 2018, er wolle die Sitzungen des EU-Parlaments sprengen. Ähnlich wie bei Trump und Brexit glauben viele EU-Politiker, dass dabei Desinformation eine wichtige Rolle spielen wird.

Die Europawahl betrifft fast ein Viertel der Schweizer Bevölkerung. 1,4 Millionen EU-Bürger leben im Land. Zudem besitzen 600 000 Schweizerinnen und Schweizer auch einen EU-Pass. Hinzu kommen 451 000 Schweizer, die in einem EU Land leben – viele von ihnen ebenfalls mit doppelter Staatsbürgerschaft.

Auch in der Schweiz existiert ein aktives Netz aus sogenannten «alternativen Medien»: Blogs, Twitter-Profile, Youtube-Kanäle, vorgebliche Newsseiten, die Verschwörungstheorien verbreiten. Zum Teil werden sie anonym betrieben, oft in internationalem Zusammenspiel. Von der Romandie aus streut die selbst ernannte Islam-Forscherin Gisèle Littman weltweit die Verschwörungstheorie eines geplanten «eurabischen» Kalifats, der Schweizer Uli Windisch verbreitet mit seinem «Les Observateurs» ultrarechte Falschmeldungen im französischsprachigen Raum; uncut-news importiert beispielsweise die Gerüchte der österreichischen Identitären.

Eine Zentralstelle gegen Desinformation hat unser Land nicht. Zwar klassifizierte man Desinformation in der «Nationalen Strategie zum Schutz der Schweiz vor Cyber-Risiken» als Bedrohung, man geht aber bisher nicht dagegen vor. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel indes warnt im Februar vor den Gefahren von Desinformationskampagnen: «Wir müssen lernen, mit Fake News als Teil der hybriden Kriegsführung umzugehen.»

Was genau ist Desinformation? Wie funktioniert sie? Und wie kann man dagegen vorgehen?

Um das zu verstehen, lohnt sich eine Reise in die Vergangenheit. Im Kalten Krieg war «Desinformazija», wie der KGB es nannte, ein wichtiges Kampfmittel. Jährlich steckte die Sowjetunion zwischen 10 und 13.5 Milliarden Franken in heutiger Währung in diese Waffe. Und der ganze Ostblock wirkte mit. Ganz vorne mit dabei: die Stasi, der Nachrichtendienst der DDR. Was man bei uns primär als gigantischen Überwachungsapparat kennt, war in Wahrheit auch ein gut organisierter Desinformationsdienst.

Ein Veteran dieser alten Welt der Desinformation heisst Horst Kopp, ist 85 Jahre alt und lebt in einem grau-rosa Plattenbau in Kyritz, einer Kleinstadt im ostdeutschen Bundesland Brandenburg. In seiner Wohnung im zweiten Stock empfängt er an einem gedeckten Kaffeetisch, sein einäugiger Mops Bijou hechelt auf dem Sofa. Im Regal CDs mit Schlagermusik.

Horst Kopp hatte beim Auslandsgeheimdienst der DDR, der HVA, einem Zweig der Stasi, den Rang eines Majors inne. Er arbeitete für die sogenannte Abteilung X, die so geheim war, dass selbst innerhalb der Stasi kaum jemand von ihrer Existenz wusste. Ihre Aufgabe hat der Historiker Georg Herbstritt vor sechs Jahren in einem Gutachten für den Deutschen Bundestag so beschrieben: «Personen, Institutionen und politische Vorhaben im Westen zu diskreditieren und dadurch zu schwächen, zu isolieren oder zu Fall zu bringen» sowie «Entscheidungen zu beeinflussen».

Kopp ist bis heute überzeugter Antikapitalist und stolz auf seine Leistungen. Er ist der einzige noch lebende Stasi-Desinformant, der über seine Arbeit spricht. Um eine erfolgreiche Desinformationskampagne zu lancieren, erklärt er, brauche man einen Funken Wahrheit, den man übertreibe oder aufbausche. «Ein Viertel Wahrheit, drei Viertel was drangehangen.»

Zersetzendes Gift

Die Abteilung X war untergebracht in der Stasi-Zentrale im Berliner Stadtteil Lichtenberg. Eine Eliteeinheit, 48 Mitarbeiter, dazu zahlreiche Informanten im Westen. Kopps Referat war seit 1966 dafür zuständig, die Medien beim Klassenfeind zu beeinflussen. Man erfand oder verfälschte Geschichten und brachte diese dann in Westmedien unter. Spione und andere Quellen waren im Auftrag seiner Abteilung in der Bundesrepublik unterwegs, um potenzielle Konflikte und Unruheherde auszumachen. Für die verdeckte Finanzierung solcher «Massnahmen» nutzte man auch die Schweiz.

Am Abend des 16. Oktober 1978 unterhalten sich Mitarbeiter der Abteilung X über die soeben erfolgte Wahl des polnischen Kardinals Karol Wojtyla zum Papst. Zum ersten Mal seit 455 Jahren steht ein Nicht-Italiener an der Spitze der katholischen Kirche. Das kann ein Unruheherd sein. So entsteht eine Idee: Der DDR-Geheimdienst will beim Vatikan den Eindruck erwecken, der westdeutsche Geheimdienst BND habe einen Spion in den Vatikan eingeschleust und die CIA stecke mit drin. So kommt es zur Aktion mit dem Decknamen «Zitrone II».

Die Agenten tippen mit einer englischen Schreibmaschine auf amerikanischem Papier Dokumente, die wirken sollen wie Notizen eines Vatikan-Agenten des BND. Die Dokumente packen Kopps Kollegen in eine italienische Aktentasche, dazu handbeschriebenen Zettel mit Telefonnummern amerikanischer und westdeutscher Agenten in Italien.

Die Aktentasche gelangt Ende 1978 als Diplomatenpost in die DDR-Botschaft in Rom. Ein Kurier legt sie schliesslich in der Papstbasilika Santa Maria Maggiore ab. Er beobachtet, wie zwei junge Männer, vermutlich Sicherheitskräfte des Vatikans, mit der Tasche hinter dem Altar verschwinden.

«Wir betrachteten die Aktion Zitrone II als Investition in eine Misstrauensbank», schreiben Kopps ehemalige Kollegen Günter Bohnsack und Herbert Bremer in ihrem Buch «Auftrag: Irreführung». Konkrete Ergebnisse hätten die DDR-Spione nicht erwartet. Daher waren sie überrascht, als im italienischen Nachrichtenmagazin «Panorama» im August 1979 ein Artikel erschien, der darüber berichtete, wie sich verschiedene Geheimdienste im Vatikan einzuschleichen versuchten. Die DDR-Spione rätselten: War das eine Folge von Zitrone II? Das Gerücht eines üblen Spiels der Geheimdienste war jedenfalls in der Welt.

Die Aktion zeigt: Desinformation wirkt nicht präzise wie eine Schusswaffe, sondern eher wie ein Gift, das sich allmählich verbreitet. Das Ziel ist kein schnelles Erledigen des Gegners. Sondern dessen langsame Zersetzung – indem man Zweifel sät.

Die Ziele von damals sind die gleichen wie heute: In beinahe jedem EULand finden sich aktuelle Beispiele für massenhaft geteilte Desinformation. Auf Sputnik war zu lesen, dass Italien seit Einführung des Euro zum ärmsten Land Europas geworden sei – in Wahrheit steht Italien auf Platz 12 von 28 Ländern der EU. Und in Lettland verbreitete derselbe russische Propagandakanal, eine Teilnahme an der EUWahl bringe der Bevölkerung nichts, da sie vor allem dem Zweck diene, hoch bezahlte Politiker nach Brüssel zu bringen. Über Manfred Weber, den deutschen Spitzenkandidaten für die Europawahl, schreibt RT, er habe eine «antirussische Haltung», die die «Medien verschweigen» würden. Und die nur dem Namen nach seriöse «Schweizer Morgenpost», eine Website voller Falschmeldungen, die von Sputnik und RT zitiert wird, verbreitete im April das Gerücht, Angela Merkel sei über eine Schweizer Privatbank in «Geldwäsche in grossem Umfang» verwickelt.

Für Menschen, die vielleicht schon länger an Politik oder Medien zweifeln, können solche Nachrichten den Ausschlag geben. Sie könnten fortan radikale Parteien wählen, die behaupten, ausserhalb des Establishments zu stehen. Oder sie könnten sich immer weiter in ihre Meinungsblase zurückziehen. Wo sie dann wieder auf Informationen stossen, die ihre Weltsicht bestätigen.

Russische Trollfabriken

Horst Kopp und seine Kollegen schickten in den Achtzigerjahren gefälschte Parteinachrichten an Mitglieder der deutschen Bundestagsparteien, stachelten frustrierte Geheimdienstler auf und streuten Gerüchte über die Nazi-Vergangenheit bekannter Persönlichkeiten Westdeutschlands. Ob diejenigen wirklich Nazis waren oder nicht, war oft zweitrangig.

Auch das ist alte Desinformationsschule: die Diskreditierung einzelner Personen. Gibt man heute den Begriff «Juncker» bei Youtube ein, zeigen die Videos mit den meisten Aufrufen, wie sich der EU-Kommissionspräsident danebenbenimmt. Mit fast drei Millionen Aufrufen steht ein Video ganz oben, das Juncker angeblich betrunken zeigt. Hochgeladen wurde es von einem obskuren Kanal, der vom russischen Propagandasender RT verlinkt wird. Einen eigenen Hashtag für solche Auftritte gibt es auch: #Druncker – eine Mischung aus Junckers Namen und dem englischen Wort «drunk». Juncker kennt die Gerüchte. Bei einer Rede im irischen Parlament im Juni 2018, als er Schwierigkeiten beim Gehen hatte, sagte er: «Ich bin nicht betrunken. Ich habe Ischias. Ich würde es vorziehen, betrunken zu sein.»

Kopps Abteilung X musste ihre Falschmeldungen meistens über bestochene oder getäuschte Journalisten verbreiten – solche Umwege sind heute dank Social Media unnötig. 2014 fand man erstmals Belege dafür, dass eine Menge auffälliger Internetbeiträge ihren Ursprung in einem Industriegebäude in St. Petersburg haben, unter dem Dach der Firma «Internet Research Agency».

In einer Strafanzeige des FBI gegen die Finanzchefin einer russischen Operation namens»Projekt Lakhta«, die ihre Aktivitäten der verdeckten politischen Einflussnahme auch mithilfe der Internet Research Agency verschleierte, wird das Ausmass deutlich: Von Januar 2016 bis Juni 2018 sollen mehr als 30 Millionen Euro in das Projekt geflossen sein, oft über Scheinfirmen mit Verbindungen zum Kreml. Das Ziel bestand laut der FBI-Anklage darin, durch Verbreiten von Memes in den sozialen Medien «Zwietracht zu säen» und «das Vertrauen in demokratische Institutionen zu schwächen». Dokumentiert sind vor allem Beispiele aus Wahlkämpfen in den USA. Konservativen wurden Bilder zugespielt, auf denen Barack Obama als Unterstützer der Muslimbruderschaft verunglimpft wurde. Kritiker Trumps sollten ermutigt werden, an Demonstrationen, sogenannten Anti-Trump-Flashmobs, teilzunehmen.

Auch solche Firmen, oft Trollfabriken genannt, sind nicht neu. Ladislav Bittman, ehemals Mitarbeiter der Desinformationsabteilung des tschechoslowakischen Geheimdiensts, veröffentlichte 1971 ein Buch. Er berichtet darin von seiner Arbeit in einer «Desinformationsfabrik», deren Ziel es gewesen sei, «alle Schwächen und verwundbaren Stellen des Feindes herauszufinden», um sie auszubeuten. Es gibt dieses System also schon seit Jahrzehnten.

Es gibt allerdings auch heute nur wenige Insider, die über ihre Arbeit sprechen. Eine von ihnen, die russische Journalistin Ludmilla Sawtschuk, hatte sich monatelang in einer Trollfabrik eingeschlichen. Im Oktober 2018 berichtete sie auf einer Konferenz in Washington: «Als ich den ersten Tag zur Arbeit kam, sah ich in jedem Raum junge Leute an Rechnern. Sie arbeiteten im Schichtbetrieb. Jeder von ihnen, lernte ich mit der Zeit, betrieb mehrere Charaktere auf englischsprachigen Social-Media-Seiten gleichzeitig.» Die Trolle müssten gewisse Mengen an Posts pro Tag veröffentlichen. Inhaltlich erhielten sie Anweisungen, die sich nach den Themen russischer Medien wie RT richteten.

2010 erschien in einer von der US-Armee herausgegebenen Fachzeitschrift ein Aufsatz mit dem Titel: «Memetische Kriegsführung – der Krieg der Zukunft». Darin beschrieb der Autor Brian J. Hancock das systematische Verbreiten kurzer, prägnanter Aussagen über das Internet – «Viren des Geistes», mit dem Ziel, Leute mit einer Idee zu infizieren, welche diese dann – wie der Wirt eines Virus – weiterverbreiten. Solche Bilder oder Clips eignen sich perfekt für Manipulation und Propaganda. Es braucht Jahre, um einen Politiker aufzubauen – aber mit Memen kann man ihn oder sie in ein paar Sekunden blossstellen.

Viel nachhaltiger als Lügen sind verdrehte Fakten. Das Juncker-Video bei Böhmermann ist echt. Wenn man einen Politiker lange genug filmt, findet man zwangsläufig peinliche Auftritte. Dann schneidet man einen solchen Clip in eine kurze Form und verbreitet ihn im Netz. Offen gelogen werde von Medien wie RT nur dann, wenn es unbedingt sein müsse, schreiben die Internet- und Propaganda-Experten Constanze Kurz und Frank Rieger in ihrem Buch «Cyberwar»: «Meistens gibt es ja genügend reale Geschehnisse, die den Gegner diskreditieren – man muss sie nur entsprechend verpacken, hervorheben und kommentieren.» Irgendwann landet so ein Clip dann vielleicht in Redaktionen, die sich keine Gedanken mehr über seinen Ursprung machen – und für einen schnellen Gag auf Kosten Junckers ein Video verbreiten, das eben kein harmloses Internetfundstück ist. Sondern Kampfmittel eines Landes, das die EU-Wahl sabotieren will.

Vor der Europawahl

Nun wäre es irrig, nur Russland den Vorwurf zu machen, mit Propaganda in Gesellschaften einzugreifen. Auch westliche Länder haben durch gezielte Aktionen immer wieder Stimmungen in anderen Ländern beeinflusst, etwa durch pro-westliche Radiosender wie Radio Free Europe oder RIAS Berlin in der Nachkriegszeit. In der Welt des Kalten Krieges waren solche Einflussgruppen meistens staatsgebunden. Heute mischen auch private Akteure mit. Oft sind es digitale Söldner wie die israelische Firma «Psy Group», die im Auftrag von Parteien, Staaten oder Privatpersonen Desinformationskampagnen starten. Fliegt eine solche Operation auf, können Staaten jederzeit sagen: Damit haben wir nichts zu tun.

Aber auch die Abwehr solcher Desinformationskampagnen leisten längst nicht nur Staaten und Geheimdienste – sondern auch private Firmen. Eine davon, das Institute for Strategic Dialogue, kurz ISD, hat ihren Sitz im Zentrum Londons. Am Klingelschild ist kein Name angeschrieben. Jetzt um die Mittagszeit sind nur eine Handvoll junger Mitarbeiter hier. Einer sitzt auf einem Sitzball und betrachtet eine Social-Media-Seite.

«Die meisten hier im Team wurden schon ziemlich ätzend getrollt», sagt Chloë Colliver. Sie ist 25 und leitet das EU-Wahlprojekt des Instituts. Sie studierte Geschichte, dann lernte sie zu programmieren. Jetzt jagt sie Trolle, die die Wahlen infiltrieren könnten.

Das ISD hat weltweit mehrere Filialen und ist auf Extremismusforschung spezialisiert, Schwerpunkt: datenbasierte Netzwerkanalyse. Für drei Monate rund um die EU-Wahl im Mai konzentriert man zwölf Vollzeitstellen und eine Handvoll Teilzeitpositionen auf die Suche nach Desinformationskampagnen. Dafür hat sich das ISD in den digitalen Untergrund eingeschlichen, wo sich die Urheber solcher Kampagnen koordinieren – in Chatgruppen der Messenger-App Telegram, im Gamerforum Dischord oder bei Gab – einer Art Twitter für Extremisten. Dort lauscht das ISD, worüber und wie die Radikalen diskutieren. Ob sie versuchen, Bündnisse zu schliessen, ob sie Pläne fassen. In der alten Welt von Horst Kopp war es ein grosser Aufwand, bei solchen Treffen mitzuhören. Heute ist es Schreibtischarbeit.

Sobald das ISD-Team erkennt, dass die Gruppen Meme mit Hassbotschaften oder Falschmeldungen erstellen, geben Collivers Mitarbeiter Schlagworte dieser aufziehenden Informationsgewitter in ihre Programme zur Netzwerkanalyse ein. So sehen sie, ob die aufgespürten Kampagnen viral gehen. Dann reagiert das ISD. Bei terroristischen Bedrohungen informiert die Firma Polizei und Justiz. Manchmal geht sie an die Öffentlichkeit. Oder sie meldet illegale Beiträge oder Einflusskampagnen direkt bei Google, Facebook oder Twitter, die diese gegebenenfalls entfernen.

Auch die EU versucht seit einiger Zeit, die grossen Internetfirmen dazu zu verpflichten, sich im Kampf gegen Desinformation zu engagieren. Doch Google und Facebook sind in einem Dilemma: Einerseits wollen sie etwas gegen ihren Ruf als Verbreiter von Falschmeldungen und Hass tun. Andererseits wissen sie, dass man vor allem mit kontroversen Inhalten viel Interaktion erzeugt, Kommentare auf die Seite bringt und Menschen so besonders lang bei der Stange bleiben – und viel Werbung sehen. Desinformation kann ein gutes Geschäft sein: Im Rahmen der Gelbwesten-Proteste in Frankreich wurden als «Fake News» eingestufte Beiträge mehr als 100 Millionen Mal gesehen – allein auf Facebook.

Ruhe bewahren

Bei der europäischen Kommission ist EU-Kommissarin Marija Gabriel für den Kampf gegen Desinformation zuständig. Sie hat im September 2018 einen Verhaltenskodex vorgestellt, in dem sich grosse Internetfirmen zu elf Punkten verpflichten sollen, wie sie gegen Desinformation vorgehen. Doch die Regeln sind so weich formuliert, dass die Firmen im Grunde nichts ändern müssen. Facebook hat angekündigt, in der Europazentrale in Dublin ein Zentrum einzurichten, in dem es sich um den Kampf gegen Desinformation kümmern will. Auf mehrmalige Anfragen des «Magazins» an Facebook in den vergangenen Wochen, wann dieses Zentrum öffnet, wie genau es arbeitet und ob Journalisten es besuchen können, kam keine Antwort.

Das wichtigste Mittel der EU gegen Desinformation findet sich im sechsten Stock eines Bürokomplexes in Brüssel. Hier arbeitet ein Team daran, Desinformation aus dem Kreml zu «debunken», also lancierte Geschichten als Propaganda zu entlarven. EUvs-Disinfo nennt sich das Team auf Twitter und Facebook. Der eigentliche Gruppenname ist komplizierter: East StratCom Task Force. Viele Mitarbeiter sind zwischen zwanzig und dreissig Jahre alt. Sie kennen den Kalten Krieg nur aus dem Geschichtsunterricht, aber russische Desinformation aus ihren Heimatländern. Man spricht Estnisch, Russisch, Polnisch, Englisch. Insgesamt 16 Leute sind es, die ganz Europa vor Kreml-initiierter Desinformation beschützen sollen. Besuchstermine sind schwer zu bekommen, mehrfache Passkontrolle am Eingang.

Giles Portman, britischer Diplomat, Kurzhaarschnitt, blauer, nicht zu feiner Anzug, leitet EUvsDisinfo seit 2015. Seither seien die drei Leitmotive der russischen Desinformation im Grunde gleich geblieben, sagt er. Erstens die Diskreditierung der Ukraine. Zweitens die Darstellung der «EU und eigentlich des ganzen Westens als russophob, aggressiv und gleichzeitig kollabierend unter Brexit und Migration». Drittens: Kritik an Russland ins Lächerliche zu ziehen. Eine neue Taktik dabei seien bewusst unverschämte Witze. Wie zur Weihnachtszeit, als RT kleine Schokoladekirchen versandte, in der Form der Kathedrale von Salisbury – dem Ort, an dem das Attentat auf Sergej Skripal stattfand.

Im Skripal-Fall, bei dem zwei russische Agenten einen russischen Ex-Agenten in England vergiften wollten, behauptete der russische Aussenminister, er habe geheime Laborresultate des renommierten «Labor Spiez» – und setzte so eine Verschwörungstheorie in die Welt. Wenn man heute «Skripal» googelt, zeigt die weltgrösste Suchmaschine ganz oben spektakuläre Enthüllungen der bereits erwähnten «Schweizer Morgenpost». Was auf den ersten Blick wie eine Lokalzeitung aussieht, taucht in keiner Liste Schweizer Medien auf, hat kein Impressum – und reagiert nicht auf Anfrage. Eine dubiose Schweizer Onlinezeitung, die – zwischen Meldungen über Autounfälle auf Bergstrassen – die angebliche Wahrheit über Skripal aufdeckt. Und von Google zum Ersten gemacht wird, was jene sehen, die sich im Netz zum Fall informieren wollen.

Während das ISD in London vor allem untersucht, auf welche Art private, staatsunabhängige Gruppierungen Hetze und Desinformation verbreiten, will EUvsDisinfo russische Falschmeldungen öffentlich korrigieren. Auf der Website finden sich mehr als 5000 Falschnachrichten samt Quellenangabe und Richtigstellung. Zum Beispiel: Die französische Polizei soll beim Kampf gegen die Gelbwesten das Giftgas Cyanid eingesetzt haben. Das EU-Parlament sei gar nicht befugt, Gesetze zu verabschieden. Durch Migranten sei die Zahl der Vergewaltigungen in Schweden um 1000 Prozent gestiegen. Die Schweiz provoziere einen dritten Weltkrieg.

Auf Twitter hat die EUvsDisinfo rund 41 000 Follower. Den russischen Medien RT, Sputnik und Ruptly folgen insgesamt über drei Millionen. Die EU hat ihr Budget für die Bekämpfung von Desinformation verdreifacht – auf nun fünf Millionen Euro. Das Jahresbudget der russischen Propagandasender beträgt 350 Millionen Euro.

Für Ruptly, deren Video in Böhmermanns «Neo Magazin Royale» lief, ist das Verbreiten von Videos ein Geschäftsmodell. Die subventionierte Agentur stellt Videos anderen Medien auffällig günstig zur Verfügung. Wenn eine Filmproduktionsfirma etwa den Juncker-Clip in einem Dokumentarfilm in einem öffentlich-rechtlichen Sender verwenden will, muss sie dafür nur 150 Euro Lizenzgebühr bezahlen – ein Bruchteil dessen, was für solche Ausschnitte bei seriösen Agenturen wie AP oder AFP fällig wäre. Auf Nachfrage des «Magazins», wie der Clip in die Sendung gelangt sei, reagierte Böhmermanns Produktionsfirma btf nicht.

Berührungsängste mit Ruptly haben offenbar immer weniger Medien: Als im April der Wikileaks-Gründer Julian Assange verhaftet wurde, war Ruptly als einzige Agentur vor Ort und bot anschliessend als einzige Firma ein Nachrichtenvideo an, in dem zu sehen war, wie Assange aus der Botschaft getragen wurde. So landeten Aufnahmen von Ruptly samt Logo auch in der SRF-«Tagesschau». Nicht nur wurden also Gebührengelder an eine russische Propagandafirma überwiesen – Ruptly ist wieder ein Stück salonfähiger geworden.

Ein Problem sei auch, dass viele Menschen die heutige Desinformation nicht mit dem Informationskrieg der Vergangenheit in Verbindung bringen, sagt Douglas Selvage in seinem Büro nahe dem Alexanderplatz in Berlin. Der amerikanische Historiker arbeitet für die Stasi-Unterlagenbehörde, welche die Akten und Dokumente des DDR-Ministeriums verwaltet und erforscht. Dabei lägen einige erfolgreiche Abwehrstrategien in den Schubläden, in die seit Ende des Kalten Krieges niemand mehr geschaut habe. «Am besten schweigen. Nicht multiplizieren. Nicht zynisch werden», sagt Selvage. Sein Rat: Ruhe bewahren. Oftmals vergrössere man mit hektischer Gegenreaktion nur die Sichtbarkeit einer Kampagne – auch wenn die Hast, mit der solche Memes durchs Internet geistern, den Eindruck erweckten, man müsse das Ganze sofort richtigstellen. So gesehen, greife die Task Force der EU vielleicht zu kurz.

Sobald man aber konkret belegen kann, wie und von wem gewisse Nachrichten manipuliert wurden, lohnt es sich, diese Vorgänge öffentlich zu machen. Die USA verfügten in den Achtzigerjahren über eine spezielle Einheit dafür, die «Active Measures Working Group», die sogar eine Entschuldigung von Michail Gorbatschow erwirkte – nachdem sie präzise den jahrelangen Aufbau des Gerüchts aufgedeckt hatte, Aids sei ein Produkt amerikanischer Biowaffenlabore. 1992 aber wurde diese Working Group eingestellt.

Historisch sind Länder mit freien Medien im Vorteil: Sie haben in den letzten Jahrzehnten massive Desinformationskampagnen überlebt. Fachleute wie Douglas Selvage sind sich einig darüber, dass deren Wirkung langfristig verschwindend gering gewesen sei. Die freie Welt blühte auf, während der Ostblock Milliarden in Desinformation investierte. Horst Kopps ehemaliger Vorgesetzter, HVA-Chef Markus Wolf, schrieb in seinen Memoiren, es sei ein «naiver Glaube» gewesen, mit solchen «Nadelstichen» das politische System der Bundesrepublik «merklich beeinflussen oder ernsthaft destabilisieren» zu können.

Horst Kopp, der alte Stasi-Mann, glaubt trotzdem, dass die Desinformationskampagnen der Geheimdienste ungebremst weiterlaufen. Ein grosser Unterschied zu damals fällt ihm aber ein: dass man heute auch mit Witzen auf Kosten des Feindes operiert. «Das gab es überhaupt nicht. Das war eine bierernste Angelegenheit.»

TILL KRAUSE ist Redaktor beim «Süddeutsche Zeitung Magazin». HANNES GRASSEGGER ist Reporter bei «Das Magazin»; hannes.grassegger@dasmagazin.ch



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