Ziemlich genau vor einem Jahr, im April 2020, verbreitete sich die Kunde, dass uns die unscheinbare Bluetooth-Funktion auf dem Smartphone aus dem Lockdown befreien könnte: Eine App sollte es richten.
Ab Mai 2020 wurde die noch in der Entwicklung steckende App ein mediales Spektakel. Journalistinnen und Journalisten überboten sich in der Erklärung technischer Details, Aktivisten duellierten sich auf Social Media mit Wissenschaftlern über Datenschutz, die neue Software war Thema an Bundesrat-Pressekonferenzen.
Die Idee klang bestechend: potenzielleÜbertragungsmomentezwischen Personen, die sich nahe kommen, dank Bluetooth erkennen; anschliessend das Virus mittels Textnachrichten ausbremsen, indem Warnungen, Testund Quarantäne-Aufforderungen verschickt werden.
Auch ich war begeistert von der Aussicht, den Lockdown zu ersetzen durch die Isolation potenziell Ansteckender – identifiziert via App. In einem zweiten Schritt wollte man die Bluetooth-Apps verschiedener Länder miteinander verbinden und so einen sicheren offenen Raum schaffen. Es ging um Pendler, um französische Krankenhausmitarbeiter in Genf, um Ferien. Die EU-Kommission meinte gar, das Fundament Europas, die Reisefreiheit, werde auf länderübergreifend vernetzten Tracing-Apps beruhen: «Ohne Interoperabilität werden wir nicht reisen können», sagte die EU-Tech-Chefin Margrethe Vestager. Die App schien nicht nur Leben zu retten, sondern auch die Freiheit zurückzubringen.
Am 25. Juni war es in der Schweiz so weit, alles schien erfüllt, die SwissCovid App war verfügbar:
Spitzentechnologie?
Datenschutz?
Apple & Google schalten
Bluetooth frei?
Zwar ging alles langsam, man verpasste die erste Welle, obwohl man eigentlich schon im April technisch bereit war – dafür gabs ein Demokratie-Plus, weil das Parlament eine sorgsam formulierte, damals weltweit einzigartige Covid-App-Verordnung inklusive Freiwilligkeitsgebot guthiess.
Gleichzeitig zum medialen Hype, welcher Hoffnungen und Ängste in der Bevölkerung beflügelte, startete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine grosse Kampagne zur Einführung der App, die vom Instagram-Spot mit Influencern über den SMS-Versand bis zu Plakaten und der Aufklärung am Postschalter reichte.
Tatsächlich wurde die SwissCovid App zur meistheruntergeladenen App des Jahres 2020 in der Schweiz. Noch vor Tiktok – drei Millionen Downloads sind es bis heute. Alle klopften sich auf die Schultern; die App-Macher wurden mit Preisen überhäuft. Jubelartikel in der Presse. Und dann passierte: nichts.
Die erste Welle verebbte, der Sommer kam, und die Fallzahlen sanken. Einzig die App störte unseren Frieden mit gelegentlichen Meldungen – etwa über «mögliche Begegnungen», die einiges an Nachfragen erforderten und sich stets als nichtig erwiesen; oder ergaben, dass die App in dieser Region «nicht unterstützt» werde.
Jede Meldung verursachte einen Schreck, weil man erwartete, dass es einen erwischt hatte. Störend auch, dass Reiseländer wie Italien und Deutschland dieselbe Technologie nutzten, aber die Synchronisierung nicht möglich war. Ich bin gereist, habe viele Menschen getroffen, bin Zug gefahren, in Büros gewesen – eine Warnung meiner App bekam ich nie.
Die App hat die ganz grossen Hoffnungen, die in sie gesetzt wurden, enttäuscht. Sie hat erstens die Pandemie nicht beendet und zweitens nicht für mehr Freiheit gesorgt. Dafür verbraucht sie weiterhin Batterie. Es gibt Risiken von Cyber-Attacken, wie Forscher zeigten. Google hat entgegen seinen Versprechen die App-Nutzerdaten monatelang nicht perfekt geschützt, wie der kanadische Cybersecurity-Experte Joel Reardon kürzlich nachwies. Von Android-Nutzern kursieren Datensätze, die es ermögliermöglichen, positiv getestete App-Nutzer, die den Covidcode vor Ende April 2021 eingaben, zu identifizieren. Falls Long-Covid in Zukunft ein Versicherungsrisiko darstellt, sind diese App-Nutzer im Nachteil. Nun ist das Leak geschlossen. Die Reisefreiheit hat die App bisher nicht befördert. Die meisten Länder koppeln heute Reisebeschränkungen an PCR-Tests oder Impfungen. Wichtiger als das Contact-Tracing wird daher eher der neue Impfpass. Sollte ich die App also löschen?
Die SwissCovid App hat zwar die grossen Erwartungen auf einen Quick Fix enttäuscht. Zudem wurde klar, dass staatliche digitale Infrastruktur sich nicht auf Apple und Google verlassen kann. Aber im Kleinen, beim Aufspüren einzelner Infektionsketten, leistet die App brav ihren Dienst. Das Ding läuft. Die Frage ist nur: Wie gut?
Die Website des BAG zeigt rund 1,8 Millionen aktive Nutzer. Bis heute, innerhalb von zehn Monaten, wurden laut einem Sprecher des Bundesamts rund 80’000 Covidcodes in die App eingegeben. Dass diese Warnmeldungen bei anderen Nutzern wirklich ankommen, belegen die anschliessenden Anrufe bei der Hotline, die in der App angezeigt werden So dürften im Verlauf von fünf bis zehn Monaten etwa 2,5 bis 5 Prozent der Nutzer eine Warnmeldung erhalten haben, schätzt Viktor von Wyl, Mitglied der Digitalgruppe der Science Task Force und Professor an der Uni Zürich.
Im Kanton Zürich wurde vergangenen September 170 Personen, die eine App-Warnung erhalten hatten, von der Infoline eine Quarantäne empfohlen. Dies entspricht etwa 5 Prozent aller hier im selben Zeitraum durch das Contact-Tracing in Quarantäne geschickten Personen. Manuelles Contact-Tracing war überraschenderweise oft schneller, weil bei der App vom ursprünglichen positiven Test über die freiwillige Eingabe des Covidcodes bis zur Warnung durch die App und die erhoffte Reaktion der Warnungsempfänger Zeit verstreicht. Professor von Wyl nennt das «die Alarmkaskade». Hier gab es unvorhergesehene Hindernisse, wie zu Beginn der zweiten Welle, als positiv getestete App-Nutzer ihren Covidcode spät oder gar nicht bekamen. Dieses Problem ist mittlerweile behoben.
Im Fazit schätzt von Wyl die Wirkung der App dennoch als «relevant» ein, da jede frühzeitige Warnung einer Kontaktperson dazu beitragen könne, Infektionsketten schneller zu unterbrechen.
Doch die für Superspreader-Events und Gruppeninfektionen so wichtige Übertragung durch Aerosole deckt die App kaum ab. Bluetooth-Nahkontakte, wie sie die App aufzeichnet, identifizieren nicht die Übertragungsmomentein einer Barin Bieloder einem Gemeindezentrum im Toggenburg, wo sich Menschen frei bewegen.
Hierfür eignen sich QR-Code-Apps, mit denen Nutzer ihre Aufenthaltszeit in einem Raum registrieren. Erweist sich später ein Registrierter als positiv, können umgehend alle Anwesenden gewarnt werden. Das ist ungenau, aber schneller und umfassender. Weil so aber Orts-mit Infektionsdaten kombiniert werden, entsteht ein Datenschutzrisiko. Nicht jeden kümmerts.
Während in Deutschland die unsichere Check-in-App Luca millionenfach heruntergeladen wurde, dominiert in der Schweiz SocialPass. Ausgebreitet hat sich diese kommerzielle App vom Waadtland aus, wo sie für Gastronomen verpflichtend ist. Man zähle 800’000 Downloads, erklärt Erwin Peter von der Anbieterfirma Swiss Helios. Das Geschäftsmodell sei einfach: «Gastronomen zahlen für die Registrierungs-App SocialScan, Gäste kriegen den dazugehörigen SocialPass kostenlos.» Peter kritisiert die SwissCovid App dafür, Datenschutz über Nutzen gestellt zu haben. Seine App erfülle kantonale Tracing-Vorschriften, indem sie Namen und Kontakte auf Anfrage liefere.
Bald soll nun auch die SwissCovid App eine Check-in-Funktion bieten. Allerdings liefert diese dann den Kantonen keine Kontaktdaten. Sie warnt Betroffene direkt. Damit ersetzt sie wohl auch nicht den SocialPass oder die Papierregistrierung im Café. Letztlich bleibt damit die SwissCovid App ein Instrument unter vielen. Eine Unterstützung der manuellen Kontaktnachverfolgung.
«Unsere Erwartung in die Technologie war einfach übersteigert», sagt der deutsche Netzjournalist Alexander Fanta. Liegt das flaue Gefühl, das die SwissCovid App verbreitet, also am Hype, der ihr vorausging?
Nein, die grosse App-Debatte war wohl ihr grösster Erfolg. Dass die Bevölkerung überhaupt eine staatliche App akzeptierte, die Kontakte erfasst und Infektionen mit Apple und Google teilt, ist Ergebnis einer kritischen Diskussion, die Datenflüsse hinterfragte – und definierte. Die Debatte half zudem offenbar, Ängste zu lindern. Sie verhinderte ausufernde Verschwörungstheorien.
Die Diskussionen seien produktiv gewesen, findet sogar Carmela Troncoso, eine der Vordenkerinnen der App. Marcel Salathé, Epidemiologe und Mit-Initiator der App, sagt: «Im Kern wurden hier über Monate in aller Öffentlichkeit die fundamentalen Prinzipien verhandelt, nach denen künftig eine digitale Infrastruktur entstehen soll.» Die Debatte habe gezeigt, wie die Bevölkerung sich öffentliche Digitalsysteme wünsche. «Open Source, dezentral, mitentwickelt von der Wissenschaft, getragen von der öffentlichen Hand. Strikter Datenschutz und maximale Sicherheit.»
Debakel wie die verspäteten Covidcodes in der zweiten Welle oder der Datenblindflug, der eine sinnvolle Steuerung von Massnahmen verhinderte, hätten gezeigt, dass Politik und Verwaltung eine digitale Erneuerung brauchen.
«Unser Fehler bei der Entwicklung», sagt Salathé, «war nicht zu viel Datenschutz, sondern dass wir die App zu wenig im Kontext des realen, häufig analog operierenden Gesundheitssystems gesehen haben.» Die App sei Spitzentechnologie. Jedes Prozent weitere Nutzer verhindere etwa ein Prozent an Infektionen. Die App funktioniere, allerdings werde sie vom Bund zu wenig beworben.
Aber wollen wir wirklich konstante staatliche App-Propaganda? Hinweistafeln? Bundesräte als Steve-Jobs-Kopien beim grossen Update-Launch? Oder eine blinkende und piepende Warn-App, die uns im permanenten Alarmzustand hält?
Niemand spricht über die SwissCovid App, weil die SwissCovid App nicht zu uns spricht. Sie sagt uns nichts. Wir können nicht mit ihr interagieren. Im Vergleich zur kommerziellen Digitalwelt aus Pushmeldungen und Popups wirkt SwissCovid wie ein grauer Bundesordner. In der heutigen Aufmerksamkeits-Ökonomie weckt solsolche Zurückhaltung bei manchen sogar Zweifel. Und die App selber nennt uns keine Gründe, sie weiterzuempfehlen. Das ist wohl der Grund, warum die Nutzerzahlen stagnieren und nur ein Viertel der Bevölkerung sie aktiviert hat.
Das wird eine der grössten Herausforderungen für die künftig auf unseren Smartphones und Rechnern einziehende «digitale Infrastruktur»: Es gilt, eine ganz neue Form der digitalen Beziehung aufzubauen – nicht zwischen Anbieter und Nutzer, sondern zwischen Staat und Bürgerin. Das hat die App nicht geschafft. Aber sie deswegen zu löschen, wäre dumm. Tatsächlich haben nicht einmal die grössten Kritiker, die ich befragte, die App gelöscht.
Nur das Virus selber könnte es sich wünschen, dass wir die App deinstallieren. Weil es ständig mutiert, immer neue Angriffstechniken entwickelt, kann es sogar sein, dass die App noch einmal viel wichtiger wird. Darum sollte man sie selbst dann installieren, wenn man geimpft ist – ich persönlich werde die App erst löschen, wenn die Pandemie vorbei ist.