Für Pal war es ein Treffer mitten ins Herz. Die schöne Aaliyah schien sich für ihn zu interessieren. In der Flirt-App Tinder auf seinem Handy sprang ein Dialogfenster auf. «Hey», schrieb er vorsichtig und wartete ein paar Minuten. «Hey :-)», textete Aaliyah, und sein Herz schlug höher. «Was machst du so?» fragte er, und er wusste um die Bedeutung dieser simplen Frage. Eine Stunde später erschien Aaliyahs Antwort auf dem Bildschirm: «Wie geht’s dir?»
Damit war es vorbei. Aaliyah hatte Pals Roboter-Prüfung nicht bestanden: den Turing- Test, benannt nach dem Pionier der künstlichen Intelligenz, Alan Turing. Weil auf «Was machst du so?» ein sinnloses «Wie geht es dir?» folgte, erkannte Pal Aaliyah als ein Programm mit dem geklauten Gesicht einer schönen Frau. «Du bist eine Fälschung», schrieb er. Sie antwortete ungerührt: «Ich erhol mich immer noch von letzter Nacht :-). Bin am Relaxen mit einem Spiel auf meinem Handy, Castle Clash.» Und dann: «Hast du schon davon gehört?» Es folgte ein Link, der zu einem Kreditkarten-Eingabefeld führte. «Spiel mit mir und du kriegst meine Nummer :-).» Das war keine Liebe, sondern ein Griff nach seinem Geld.
Die Frustration darüber, zu entdecken, dass man sein Herz einer Maschine in die Hände gelegt hat, beschrieb der deutsche Romantiker E. T. A. Hoffmann bereits vor fast 200 Jahren. In seinem Schauermärchen «Der Sandmann» von 1816 stürzt sich der junge Nathanael von einem Turm, nachdem er erfahren hat, dass die von ihm begehrte Olimpia nur ein «lebloser Automat», kurz: ein Roboter ist.
Heute nennen sich die flirtenden Roboter Lovebots und sind Verwandte der bösartigen Spambots, die heimlich E-Mail-Adressen aus dem Netz fischen, der höflichen Chatbots, die Online-Foren beaufsichtigen, und der Twitterbots, die auf dem Kurznachrichtendienst automatisiert Nachrichten von sich geben.
Bots sind programmierte Handlungsabläufe. Wie Roboter in der physischen Welt nehmen sie Menschen Arbeit ab. Manche sind mit ihrer menschlichen Umgebung verknüpft, einige lernen gar von ihr. Wir leben mit ihnen, arbeiten mit ihnen, bemerken sie aber nur am Rande. Es sind Programme, letztlich Maschinen, die mit Menschen in einen Dialog treten, ähnlich den automatisierten Spracheingaben in Telefon-Warteschleifen oder sprechenden Betriebssystemen wie Siri von Apple.
Die Roboter verbreiten sich rasend schnell. Laut der «New York Times» sind mittlerweile fast zwei Drittel der Twitter-Follower keine Menschen, sondern Maschinen. Letztes Jahr flog auf, dass eine der lange einflussreichsten brasilianischen Journalistinnen auf Twitter namens «Carina Santos/@Scarina91» ein Roboter war. Twitterbots mischten sich mit pro-russischen Nachrichten in die Krim-Krise ein. Viele Klickzahlen bei Youtube sind das Ergebnis von Robotern. Der Sicherheitsanbieter Distil schätzt, dass die Maschinen mittlerweile für rund 40 Prozent des Datenverkehrs im Netz verantwortlich sind. Sechs von zehn hegten keine guten Absichten. Über acht Milliarden Bots will das Unternehmen bisher identifiziert haben. Incapsula, ein anderer Sicher–heitsanbieter, schätzt, dass die Maschinen mittlerweile den Grossteil des Datenverkehrs auf dem World Wide Web ausmachen.
Bei Tinder, einer der beliebtesten Flirt-Apps in den USA, sind die Roboter zum ersten Mal im März 2013 aufgetaucht. Das Unternehmen fing an, sie zu bekämpfen, doch die Flirtbots veränderten sich. Sie haben ausgefeilte Taktiken entwickelt. Erst wenn sie kontaktiert werden, bauen sie mit Phrasen einen Pseudo-Dialog auf. Die meisten Tinderbots sind weiblich, ihr Schreibstil imitiert den amerikanischen SMS-Slang der Zielgruppe. Mittlerweile sprechen sie sogar mehrere Sprachen. Sie sind das vielleicht grösste Problem der erfolgreichen Apps. Wenn sie das Netzwerk kolonisierten, könnten die Menschen abziehen.
Logische Fragen wie die von Pal oder sogenannte Captchas, verschwommene Buchstabenfolgen, die man vielerorts zusätzlich zum Passwort zur Anmeldung eingeben muss, sind nichts anderes als Mauern, um Maschinen von Menschen fernzuhalten. Durch immer bessere Filter aber würden auch die Roboter immer besser, sagt Tim Hwang, Forschungsleiter bei der Pacific Social Architecting Corporation, die gesellschaftliche Effekte von Technologien untersucht. Zunehmend eigneten sich Maschinen menschliche Züge an, um sich einzuschleichen.
Maschinen haben weder Herz noch Bewusstsein. Doch immer mehr können beides imitieren. Eine seltsame Nähe beginnt zu entstehen. Viele Menschen haben eine solche Nähe zu ihrem sprechenden Navigationssystem im Auto aufgebaut. Sie beschimpfen oder loben es, je nachdem, wie zufrieden sie mit seiner Leistung sind. Manche streicheln beim Einschlafen ihr warmes Smartphone.
Mittlerweile hat Hollywood das Thema entdeckt: Der Kinoerfolg «Her» erzählt von der verstörende Liebesbeziehung zwischen einem Menschen und einem Betriebssystem namens Samantha. Und in «Transcendence» verliert eine Frau die Liebe zu ihrem verstorbenen Partner, der als auf einen Computer geladene Persönlichkeit fortlebt. «Dass Hollywood sich jetzt so für die Beziehung zwischen Mensch und Maschine interessiert, liegt daran, dass wir mittlerweile alle zu verstehen beginnen, wie eng wir mit Maschinen verwoben sind», meint Katherine Hayles. Sie ist Professorin an der Duke-Universität in North Carolina und die führende Denkerin auf dem Gebiet des Post-Humanismus, der die Verschmelzung von Mensch und Technik erforscht.
An den Finanzmärkten beispielsweise sei die Mensch-Maschine-Verbindung schon weit fortgeschritten, sagt Hayles. Grosse Teile des Handels beruhen auf der Vernetzung von Menschen mit intelligenten Maschinen, die dem Menschen Entscheidungen abnehmen, weil er zu langsam ist, um mitzuhalten. Und fast jeder Mensch in fortgeschrittenen Industrieländern hat heute grosse Teile seiner persönlichen Erinnerungen auf Festplatten oder in einer Datenwolke ausgelagert.
Diese Verbindung wird wohl untrennbar werden. Die Roboter werden zu einem Teil von uns. Ray Kurzweil, der Chefingenieur von Google, prognostiziert in einem Interview mit dem «Wall Street Journal», dass in absehbarer Zukunft die Roboter auch in unseren Blutbahnen kursieren werden. Sie werden Nanobots genannt, haben die Grösse eines Blutkörperchens und würden nicht nur Krankheiten vor Ort bekämpfen, sondern auch unser Gehirn mit Computernetzwerken verbinden. Das biologische Gehirn würde verbunden mit künstlicher Intelligenz. Wir könnten nach unserem Gesundheitszustand googeln. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine soll, so Kurzweil, in 15 bis 30 Jahren Tatsache werden.
Selbst wenn die Maschinen nicht in unsere Körper einziehen sollten, werden wir dennoch ein Teil von ihnen. Unsere Umwelt besteht zunehmend aus vernetzten intelligenten Systemen. Durch das sogenannte Internet der Dinge, bei dem Apparate mit dem Internet verbunden werden, werden wir zunehmend enger verknüpft: Unsere Zahnbürste könnte in Zukunft mit einem Sensor ausgerüstet sein und würde dem Zahnarzt unseren Gesundheitszustand mitteilen. Die Information ginge auch an die Pharmabranche, und die zahlte uns dafür die Zahnpasta. Google schätzt die Wichtigkeit dieses allgegenwärtigen, uns umfassenden Internets so hoch ein, dass der Konzern im letzten Januar 3,2 Milliarden Dollar für den kleinen Haushaltssensorik-Hersteller Nest Labs bezahlte.
Die Maschinen werden uns Aufgaben wie das Einkaufen und das Autofahren abnehmen – aber auch unsere Jobs. Die «LA Times» veröffentlichte diesen März den ersten News-Report, der von einem Roboter geschrieben worden war. Auch komplexe medizinische Operationen lassen sich automatisieren. Bis in den Tod hinein werden die Maschinen uns begleiten. Im alternden Japan blinzeln Roboter-Kuscheltiere greise Senioren in Altersheimen freundlich an.
Eins steht fest: intelligente Maschinen können uns nützen und schaden – aber sie werden immer da sein. Ob unser Verhältnis zu ihnen freundlich oder feindlich sein wird, entwickelt sich zur entscheidenden Frage für Gesellschaften, in denen es keinen Augenblick mehr ohne die Anwesenheit der mitdenkenden Maschine geben wird.
Zieht mit der immer engeren Verknüpfung von Mensch und Maschine der Konflikt mit den zielstrebigen Maschinen direkt in uns selber ein? Werden wir gar «uns» verlieren, weil jede Person zukünftig auch noch aus Maschinen besteht?
Wir werden uns verändern. Katherine Hayles spricht von einem «posthumanen Dasein»: «Was uns von den Höhlenbewohnern unterscheidet, ist das dauernde Bewusstsein, Bestandteil eines technologischen Systems zu sein.» Dass Maschinen ein eigenes Bewusstsein entwickeln, in welches wir uns verlieben oder mit dem wir streiten, hält sie für unwahrscheinlich. Eine Art interpersoneller Austausch zwischen Mensch und Maschine sei möglich – nicht aber ein innerer Konflikt. «Es gibt eine lange Geschichte der Angst vor der Maschine», sagt sie, «in Wahrheit sehen wir für jeden Konflikt hundert Fälle der Kooperation.» Das Verhältnis sei grösstenteils harmonisch, aber nicht mehr. Ausser den «engen Beziehungen, die manche mit ihren Smartphones führen», sei ihr kein Fall von Verliebtheit in Maschinen zu Ohren gekommen.
Optimisten denken, die Vernetzung könnte ein Akt der Vervollständigung sein. Bei einem Experiment trat Schach-Grossmeister Garri Kasparow zusammen mit einem Computer an und gewann gegen ein Grossaufgebot menschlicher Gegner. Sein Fazit: Die Maschine sei besser in der Taktik, er sei besser in der langfristigen Strategie. Science-Fiction-Forscher Philipp Theisohn, Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich, argumentiert gar, dass der Mensch daher so auf die Verschmelzung hinarbeite, weil er hoffe, endlich zu sich selbst zu finden. «Weil wir glauben, gar nicht zu wissen, was wir wollen, arbeiten wir seit Jahrtausenden an einem neutralen Ratgeber, einem ständigen Begleiter, der uns, unberührt von unseren Emotionen, zu uns führen soll.»
Solange die Maschine ohne eigenen Willen bleibt, steckt hinter ihrer vorgeblichen Lebendigkeit nichts anderes als unsere eigene. Das hatte schon E. T. A. Hoffmann erkannt: Als der junge Nathanael seine geliebte Roboterfrau Olimpia an sich drückt, erschrickt er erst über ihre Kälte. Dann berühren seine Lippen die ihren, und «in dem Kuss schienen die Lippen zum Leben zu erwarmen».