March 5, 2016

Operation Libero

Aktivdienst auf dem digitalen Kampfplatz. Wie eine kühne Truppe junger Leute die Durchsetzungsinitiative bekämpfte und sich gegen die Herrschaft eines Milliardärs stellte.

Als Dominik Elser an jenem Abend im vergangenen September das Sitzungszimmer verliess, versuchte er zu verstehen, worauf er sich da gerade eingelassen hatte. Er spürte ein ungewohntes Gefühl in seiner Brust, während er die steinerne Wendeltreppe im Inneren des Berner Patrizierhauses hinabstieg. Eine Mischung aus Verwunderung, Enttäuschung und, seltsamerweise, Aufbruch. Als sich hinter ihm die Türen der einflussreichen Lobbying-Firma Furrerhugi AG schlossen, begann Elser zu ahnen, dass er sich auf einen Kampf gegen einen gewaltigen Gegner vorbereiten sollte.


Elser, Jahrgang 1987, ist ein zurückhaltend auftretender Jurist, der über die Schweizer Verfassung promoviert. Sie ist für ihn die beste der Welt; so gut, dass er sich insgeheim sogar in sie verliebt hat, wie er sagt. Dominik Elser hat kurze Haare und eine hohe Stirn. Mit seiner runden Brille könnte er in einem Film einen Akademiker des 19. Jahrhunderts spielen. Elser ist ein mutiger Idealist. Zur Sondierung dessen, was ihm bevorstand, fuhr er ein paar Tage darauf ins Hauptquartier der Zürcher SVP, um mit dem damaligen SVP-Nationalratskandidaten Roger Köppel vor laufender Kamera die Klingen zu kreuzen. Gegen den fein gebauten Elser wirkt sogar Köppel wie ein Bodybuilder.


Offensive für die Freiheit
Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative, dem kollektiven Trauma aller SVP-Gegner, lag der Gedanke einer überparteilichen Anti-SVP-Plattform in der Luft. Am 14. Februar 2014, fünf Tage nach der folgenschweren Abstimmung, luden Ivo Scherrer und Max Stern, Mitglieder des «Forum Aussenpolitik», kurz Foraus, zu einer «Chropfleerete». Es war ein denkwürdiger Anlass in den Bögen des Viadukts in Zürich. Statt eines gemeinsamen Besäufnisses der Verlierer gab es einen für alle offenen Workshop im Gründerzentrum Impact Hub. Sie wollten Strategien aushecken, um die Schweiz vor den aus ihrer Sicht gefährlichen SVP-Initiativen zu bewahren. Um sicherzustellen, dass die Zivilgesellschaft nie wieder eine derartige Abstimmung verschlafen würde. Diverse Gruppen präsentierten Zwischenergebnisse, am Ende stand fest, dass eine neue Vereinigung gegründet werden müsste. Eine Plattform, um in die Schweizer Innenpolitik einzugreifen. Etwas, das politischen Akteuren – wie ein Libero im Fussball früherer Tage – die entscheidenden Pässe geben sollte. Etwas, das nicht neutral sein sollte wie Foraus, sondern offensiv für die Sache der Freiheit. Aus der anfänglichen Frustration hatte sich eine Euphorie entwickelt. Eine Aufbruchstimmung. «Operation Libero» schlug Foraus-Gründer Nicola Forster als Name vor. Für ihn war es eine Art Start-up. Wie bei einer Firmengründung arbeitete über die kommenden Monate hinweg eine kleine Gruppe Beseelter an einem Konzeptpapier. Darunter Dominik Elser, sein Foraus-Kollege, der angehende Staatsrechtler Stefan Schlegel und die Freiburger Geschichtsstudentin Flavia Kleiner. Man musste die damals 23-Jährige lange bearbeiten, bis sie das Amt der Co-Präsidentin annahm.


Mitte 2014 stand das Manifest. Darin die gemeinsamen Grundwerte: Es sind die der liberalen Schweiz ihres Gründungsjahres 1848, wirtschafts- wie gesellschaftsliberal, der Zukunft zugewandt. Ein Gegenmythos zum SVP-Sünneli-Sonderfall Schweiz. In der Politik gewinnt, wer die Mythen beherrscht, weil keiner gegen sie ankommt. Das ist ein Gedanke des umstrittenen deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt, über dessen Werk SVP-Nationalrat Roger Köppel einst seinen Uni-Abschluss geschrieben hat.
Für eine Weile blieb Operation Libero ein Grüppchen unter vielen, gelegentlich aber fielen sie mit halbwegs originellen Ideen auf. Einmal zum Beispiel verteilten Libero-Leute Kondome unter dem Slogan «Poppen gegen Ecopop».


«Das schaffen wir»
Einige Tage nach jenem Treffen bei Furrerhugi erzählte Dominik Elser seiner Kollegin Flavia Kleiner auf der Terrasse des Café Litteraire in Bern erstmals, was er an dem Septemberabend erlebt hatte. Ein Zürcher Freisinniger alter Schule, Ulrich Gut, hatte eine lose Gruppe von Juristen, NGO-Vertretern, Politikern und Wirtschaftsbossen an einen Tisch gebracht. Man wollte die Effekte der anstehenden SVP-Durchsetzungsinitiative einschätzen und andenken, wer die Initiativgegner anführen könnte. Der Runde wurde klar, wie gefährlich die Initiative ist. Wie sehr sie diesem kleinen, erfolgreichen Land im Herzen Europas Schaden zufügt. Alle waren sich einig, dass man dagegen vorgehen müsse.


«Weisst du, was schlimm ist?», fragte er Flavia Kleiner: «Niemand ist bereit loszulegen. Gut hat reihum gefragt. Niemand hat Geld oder Zeit oder Leute. Vor allem nicht die Parteien, wegen der kommenden Wahl am 18. Oktober. Da hab ich den Arm gehoben und gesagt, wir könnten vielleicht schon, wenn unser Vorstand dafür ist.»
«Das schaffen wir schon, Elsie», antwortete Kleiner, ohne zu zögern.


Flavia Kleiner sei «der Albtraum der SVP», schrieb der Journalist Constantin Seibt, aber in Wahrheit träumen manche SVPler davon, sie in ihren Reihen zu haben. Die Frau mit ihren hellen, offenen Locken sieht aus, als sei sie einem Gemälde Albert Ankers entstiegen, Blochers Malerfürst. Ihre Sätze beendet sie gern mit «voilà». Sie habe, sagt sie, «in Fribourg die französische Sprache lieb gewonnen».


Das Erwachen der «Generation Blocher»
Aufgewachsen ist Kleiner als eines von drei Kindern einer FDP-Gemeinderätin und eines Juristen im Pendlerparadies Niederhasli ZH. Ihr erster Interneteintrag: im Katalog des Zürcher Opernhauses, als Statistin in «Der Freischütz». Ideell stehe sie der FDP am nächsten, sagt sie. Doch sie verachtet deren Anbiederung an die SVP. Sie bekommt auch dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf: Maurus Zeier, Präsident der Jungfreisinnigen, am SVP-Sommerfest, Arm in Arm mit Roger Köppel. Flavia Kleiner ist überzeugt, dass solche Leute das Land zerstören könnten, in dem sie so gern lebt. Und wie sich eine gespaltene Gesellschaft anfühlt, hat sie im Schutzbunker erlebt, bei einem Austauschjahr 2012 in Jerusalem. «Das hat mich radikalisiert», sagt sie.


Flavia Kleiners Generation wird meist als Generation Y bezeichnet. Hierzulande wäre «Generation Blocher» ein passenderer Name. Sie wurde geboren, als Blocher Anfang der 1990er gegen Europa politisierte und gewann. Für Kleiner ist Christoph Blochers Gepolter sozusagen der normale Klang der schweizerischen Politik. Wegen Blocher gibt es kein Erasmus-Austauschprogramm mehr für Schweizer Studenten. Doch in einem Land mit zunehmenden Einschränkungen zu leben ist schwierig zu akzeptieren für eine Generation, die mit Easyjet reist und im Netz keine Grenzen kennt. Ältere loben die sinkenden Kriminalitätsraten dieser Generation, belächeln sie aber gleichzeitig als zu angepasst.


Kann es sein, dass diese jungen Leute nur deshalb vorsichtig sind, weil sie im Netz erlebt haben, dass alles weltweite Konsequenzen haben kann und für immer aufgezeichnet wird? «Wir haben gelernt zu kämpfen, gegen die ständigen Attacken im Netz, die Lästerei, die Trolls. Wir lassen sie nicht mehr durchkommen», sagt Kleiner.


Mitte Oktober 2015 begreift das Team von Operation Libero, dass der Moment gekommen ist, für den man sich damals in den Zürcher Viaduktbögen gründete. Dass wieder alle am Schlafen sind, während die SVP erfolgreich Kulturkampf betreibt. Und dass sie bei der Gegenkampagne federführend sein könnten.
Für Kampagnen zählt zweierlei: Führungskompetenz und Argumente. Führungserfahrung hat bei Libero niemand. Man beschliesst, dass Dominik Elser sich um Inhalte kümmert. Flavia Kleiner soll eine «Taskforce Durchsetzungsinitiative» lenken, unterstützt durch den 23-jährigen Politikstudenten Stefan Egli. Mit dabei ist auch der hauptberufliche Social-Media-Campaigner Adrian Mahlstein.


Am 26. Oktober 2015, bei einem zweiten Treffen unter Ulrich Guts Leitung, nach den Nationalratswahlen, sieht Kleiner die herrschende Resignation mit eigenen Augen. Die SVP hat gewonnen, die Parteienvertreter sind finanziell und physisch erschöpft. Von den Wirtschaftsverbänden ist keine grosse Unterstützung zu spüren. Dazu kommt, dass die NGOs weder Personal haben noch Geld. Einzig Amnesty International würde 10 000 Franken beisteuern, nur dürften diese nicht in einem Parteikomitee eingesetzt werden.


«Es war absurd», sagt Kleiner heute, «diese erfahrenen Kampagnenleiter völlig resigniert und wir ganz unerfahren – mit nichts als ein bisschen Zeit.» An diesem Treffen zeigte sich auch, dass keine Einigkeit herrschte. Die Gegner der Initiative wollten sich in vier Komitees aufteilen: die Wirtschaftsverbände, die bürgerlichen Parteien und die Linken unter Anführung von SP, Gewerkschaften und Juso. Übrig blieb die Zivilgesellschaft, darunter Nichtregierungsorganisationen, viele davon mit weniger als einer Vollzeitstelle. Noch mehr auf die Stimmung drückt am 10. November eine erste Umfrage: 66 Prozent Zustimmung für die Durchsetzungsinitiative, davon 45 Prozent fest beim Ja, 21 Prozent eher Ja, 3 Prozent sind sich noch unsicher, der Rest ist klar kontra. Eine desaströse Ausgangslage. Schlechter noch als bei der Masseneinwanderungsinitiative.


Für Schlegel und Elser zeigen diese Umfragen deutlich, dass diese Abstimmung nur im bürgerlichen Wählerlager gewonnen werden kann. Die Wählerschaft zerfalle in drei etwa gleich grosse Teile. Links und rechts hätten ihre Meinung gebildet. Bei ihnen gehe es um Mobilisierung. Die wahre Entscheidung falle in der Mitte. «Bei Leuten wie meinen Nachbarn in Niederhasli», erklärt Flavia, «bei Beat und Trix und Ursula. Stillen Menschen zwischen 45 und 65, die zu Hause gern mit Freunden diskutieren, sich von der Welt aber manchmal überrollt fühlen.» Dort hoffen die Liberos ihre stärkste Waffe einzusetzen: die besseren Argumente. Daher wollte sich das Team eigentlich den bürgerlichen Parteien anschliessen. Doch die haben sich noch nicht einmal zusammengesetzt. Mitte November 2015 fällt Dominik Elser wegen eines Unglücks in der Familie fast komplett aus.


Absolute Furchtlosigkeit
Ab diesem Moment hängt alles an der heute 25-jährigen Kleiner. Ihr Treffen mit den bürgerlichen Parteien findet am 20. November im Dachgeschoss der Berner FDP-Zentrale in der Neuengasse statt. Dort begegnet Kleiner auch den Vertretern von CVP und BDP. Sie erinnert sich noch an das warme Mineralwasser, das ohne Gläser verteilt wurde, und an eine ziemlich resignierte Stimmung. «Die haben die Waffen schon gestreckt», dachte sie sich damals.


Als Flavia Kleiner die FDP-Zentrale verlässt, ist klar: Sie wird das unparteiische NGO-Komitee anführen. Operation Libero wird dafür das einzig vorhandene Geld nehmen, die 10 000 Franken von Amnesty. Allerdings hat sie den linken NGOs die Bedingung abgerungen, in der Mitte politisieren zu können. Was jedoch kein Problem ist, die anderen NGOs haben ohnehin kaum Kapazitäten.


«Ohne Operation Libero hätte es keine NGO-Kampagne gegeben», erinnert sich Andrea Huber von der NGO Schutzfaktor M. «Flavias absolute Furchtlosigkeit hat uns alle beeinflusst.» Das sei entscheidend gewesen für alles Weitere, glaubt die langjährige Menschenrechtsaktivistin. Statt zu sagen: Wir können es versuchen, habe Flavia gesagt: «Wir müssen gewinnen.»


Flavia Kleiner wusste, dass es sich um die entscheidende Schlacht handelte – die der liberalen, traditionsreichen und erfolgreichen Schweiz gegen eine SVP, welche die Schweiz umbauen will. Und sie schöpfte Hoffnung aus einem einfachen Fakt: «Wir sind die Mehrheit. Wir sind die 70 Prozent.» Diese Gewissheit treibt sie an, das will sie vermitteln. «Ich und meine Nerd-Armee», sagt sie, «mit meinen beiden Chefideologen.»


Ihre Mitstreiter beschliessen, keinen Deut auf die Argumentation der SVP einzugehen. Statt über Ausländerkriminalität zu sprechen, will man die Initiative als Systemgefährdung enttarnen, als Trojanisches Pferd einer Partei, die sie für verlogen halten. «Die Zeit des sanften ‹Ja, aber› ist vorbei, es hat zwanzig Jahre lang nicht funktioniert», sagt Kleiner.


Die Kampagne startet im Netz. Social-Media-Spezialist Mahlstein hatte zwei Facebook-Gruppen eröffnet. Einen Juristen-Chat für die jederzeitige Klärung rechtlicher Fragen sowie, zur gegenseitigen Koordination, den «Warrior-Chat», den alle ab jetzt laufend checken. Dazu kommt bald noch ein dritter Chat, in dem alles über rechte Exponenten gesammelt wird. Sie nennen ihn «Auns-Chat», die Autokorrektur macht daraus «Anus», und das wird so gelassen. Diese konstante Vernetzung im Chat macht Operation Libero wendiger als ihren Gegner, der sich anders koordiniert. Grössere Entscheidungen trifft Flavia Kleiner, alles andere kann jeder entscheiden, der seine Idee zur Prüfung noch mal eine Weile in den Chat gestellt hat. Vier-Augen-Prinzip nennt Flavia das.


Eines Tages postet beispielsweise jemand im Chat ein Foto eines Aushangs in einem Treppenhaus: Darin erzählt ein SVPler, warum er die Initiative unterstützt. Die Chatteilnehmer sind begeistert. Man könnte auch persönliche Aushänge produzieren: mit den persönlichen Geschichten, die Secondos an Libero sandten. Also holt einer deren Erlaubnis ein, ein anderer prüft die fertigen Texte, 24 Stunden später steht eine Downloadvorlage im Netz bereit. Hunderte laden sie herunter, verteilen sie in Hauseingängen.


Zur Kommunikation setzt Mahlstein Facebook, Twitterprofil und Website des NGO-Gegnerkomitees auf, gleichzeitig führt er diese Kanäle auch separat für Operation Libero weiter. An ihren Laptops erarbeiten die jungen Juristen Schlegel und Elser Fallbeispiele für Konsequenzen des neuen Verfassungsartikels. Im Chatroom werden daraus Meme gebastelt, beispielsweise Katzenbildchen mit Antworten auf Behauptungen der SVP. Meme sind nützliche Werkzeuge. Sie dienen als Antwortkärtchen auf häufige Diskussionspunkte. Via Copy & Paste können sie schnell weiterwandern. Rund um die Uhr durchsucht das Team Äusserungen der SVP-Seite, sammelt Angreifbares im Chat, um anschliessend Video- und Textbelege von Unwahrheiten oder Widersprüchen im Web zu verbreiten.
Als SVP-Politiker Thomas Burgherr auf einem Lokalsender zugibt, dass er nicht weiss, was genau in seiner Initiative steht, wird daraus ein 20-Sekunden-Spot. Mehr als 230 000 Views. Daneben steht jeweils ein Spendenaufruf.


Kriegerin und Sitzungsgenie
Weil Flavia Kleiner das Gefühl hat, dass ihre Schweiz, ihr Land, fundamental bedroht ist und keiner etwas dagegen tut, verliert sie jede Scheu. Mit einem Bundeshaus-Badge, den Nationalrat Tim Guldimann (SP/ZH) ihr gegeben hat, wird sie zu Beginn der Wintersession in der Wandelhalle aktiv. Sie spricht Parlamentarier an, drückt ihnen Positionspapiere in die Hand, lädt sie ins Café Galerie des Alpes ein. «Man kann dort im Viertelstundentakt Meetings arrangieren», sagt sie.
Flavia sei ein Sitzungsgenie geworden, sagt ihr Team. In Gruppensitzungen kann sie herrschen, ohne zu verletzen. Die Traktandenliste bestimmt nur sie, doch Meinungen holt sie von allen ab. Sie entscheidet, wann ein Thema abgeschlossen ist, und verkündet dann ihren Beschluss öffentlich. Negative Aufgaben – etwa den Pressetext für den Fall der Niederlage zu schreiben – bringt sie nicht ins Plenum, «um die Kampfmoral zu wahren», wie sie sagt.
Kleiner ist eine Kriegerin, sie spricht fröhlich von Schlachten und Vergeltung. Auf ein kurzfristig abgesagtes Streitgespräch mit Toni Brunner hatte sie sich sehr gefreut. Nur ihrem Intimus David Schärer, Inhaber einer Werbeagentur, vertraut sie manchmal an, welche Fragen sie quälen. Und dass sie schlecht schlafe.


Auf allen Kanälen
Anfang Dezember 2015. Kleiner läuft die Zeit weg. Sie will, dass alle Komitees noch vor dem Jahreswechsel aktiv werden. Am 14. Dezember organisiert sie mit Schutzfaktor M im Bundeshaus einen Vortrag der Völkerrechtlerin Fanny de Weck. Wegen des grossen Andrangs muss der Vortrag ins grosse Fraktionszimmer der SVP unter der Kuppel verlegt werden. Im Publikum sind auch Stände- und Nationalräte. Der Vortrag wird ein Erfolg. «Jemand sagte mir, wir seien von allen Komitees am besten aufgestellt. Dabei waren wir grade mal fünf Nasen», erinnert sich Mitstreiterin Andrea Huber. Fortan nutzen Parlamentarier die NGO-Kampagne als Informationsquelle. Nationalräte bitten um Briefings. Auch Bunderat Alain Berset hatte Flavia Kleiner schon zum Austausch geladen, das war allerdings vor der Kampagne.


Am 20. Dezember dann der erste grosse Erfolg der DSIGegner: Der Grossteil der Ständeräte unterzeichnet eine öffentliche Erklärung gegen die Initiative.
Am 22. Dezember 2015 tritt Flavia Kleiner erstmals in der breiten Öffentlichkeit auf. Justizministerin Sommaruga läutet mit einer Medienkonferenz offiziell die Gegenkampagne ein, welcher sich der Bundesrat anschliesst. Flavia Kleiner spricht als Leiterin des NGO-Komitees. Vom selben Tag an erscheinen ihre Argumente in fast allen führenden Medien des Landes, oft vor denen der anderen Komitees. Für einen Aufschrei der Gegner sorgt die von Kleiners Team am Abend zwischen ein paar Proseccoflaschen nachgelegte Aussage, die SVP schaffe eigentlich ein Scharia-System. Ein Argument, mit dem der grüne Nationalrat Balthasar Glättli (ZH) im Januar im Zürcher Volkshaus Christoph Blocher zu einem Wutausbruch provoziert.


Zwischen den Jahren beginnen Spenden einzufliessen, an manchen Tagen sogar mehrere Tausend Franken, trotz der verheerenden Vorfälle in der Kölner Silvesternacht. Eine Umfrage Anfang Januar jedoch ergibt immer noch 61 Prozent Zustimmung zur SVP-Initiative. Mitte Januar dann beginnen viele den Ernst der Lage zu verstehen. Plötzlich kursieren landesweit E-Mails, die vor der Initiative warnen. Der ehemalige «Tages-Anzeiger»-Chefredaktor Peter Studer startet die auffälligste Initiative aus der Zivilgesellschaft. Er sammelt mit einem winzigen Team in Windeseile Prominente und Normalbürger aus allen Lagern zusammen. Bis zur Abstimmung treffen beim «Dringenden Aufruf» über eine Million Franken an Spenden ein. Die kantigen No/Nein/Non-Plakate sind plötzlich im ganzen Land zu sehen. Am 14. Januar verkünden 120 Schweizer Rechtsprofessoren ihren Widerstand gegen die Initiative. Mit jenen Gründen, die das NGO-Komitee genannt hatte. Am 20. Januar 2016 erscheint die nächste grosse Umfrage: Die Durchsetzungsinitiative hat gewaltig eingebüsst. Die Zustimmung liegt nur noch bei 51 Prozent der Wähler, 7 Prozent sind noch unentschlossen. Plötzlich scheint jedoch das ganze Land an der Abstimmung interessiert.


Als die SVP am 18. Januar rund 2,8 Millionen Extrablätter im Land versendet, postet Operation Libero schon am Tag darauf auf allen Kanälen «Die 5 grössten Lügen im SVPExtrablatt», die Argumente verbreiten sich viral gewaltig.


Ende Januar hat Operation Libero rund 100 000 Franken Spenden gesammelt. Plakate und Flyer werden gedruckt, Flavia Kleiner träumt von einer Werbekampagne, als am Sonntag, dem 7. Februar, tatsächlich die Meili-Brüder anrufen, die drei wohlhabenden Erben.


«Monetas hat Flavia geküsst», textet sie. Zwei Tage darauf läuft in fast allen Bahnhöfen der Schweiz ein Video: Es zeigt Helvetia als schöne Kriegerin, die von einer Abrissbirne von ihrem Sockel gefegt wird. Alles in den SVP-Kampffarben illustriert, Schwarz-Weiss-Rot. «Durchsetzungsinitiative» steht auf der Abrissbirne. Je bekannter man wird, desto mehr Geld kommt in die Kasse, bis zum Abstimmungstag sammelte Operation Libero fast 300 000 Franken.


Im Stillen zittert Flavia Kleiner nur noch auf einen Termin hin: den 17. Februar. Der Tag, an dem die wohl allerletzte Umfrage erscheint. Die Tage davor ist Flavia Kleiner an Demonstrationen, nachts jagt die Gruppe ihre Gegner im Netz. So wie am 11. Februar, als um 21.57 Uhr Adrian Mahlstein postet: «Es trollt mal wieder heftig.» Ein paar Chatteilnehmer loggen sich umgehend in Social-Media-Kanäle ein. «Bis zum letzten Wort» lautet die Parole, wenn man gegen die oft kruden Argumente seltsamer Profile wie jenes von Dr. Marcel Kraus angeht, der seine Ja-Parolen in Blockbuchstaben stets dreimal postet. Gegen Mitternacht schreibt ein Pascal im Warrior-Chat: «Da fühlt man sich schon wie einer der Spartaner im Film ‹300›, wenn man so einen Troll killt.»


Zwei Tage später, am 13. Februar, einem Samstag, steuert eine Kolonne dunkler Vans durch das Mittelland. Der junge Sebastian von Graffenried, Mitglied des pro-europäischen Jugendverbandes YES, hat Geld aufgetrieben von Swissmem, einem Wirtschaftsverband. Genug, um ein paar Autos zu mieten, Leute zu sammeln und einen Trip durch die Swing States zu machen. In welchen Städten die Stimmung noch kippen könnte, weiss Flavia von einem befreundeten Demoskopen. Im Jumbo-Baumarkt in Hinwil bekommt sogar Bundesrat Maurer einen Operation-Libero-Flugzettel in die Hand gedrückt. Im Auto von Grenchen nach Solothurn fragt einer der Studenten plötzlich: «Glaubt ihr wirklich, dass das heute wie in 1933 werden könnte?» Dreissig Minuten lang wird diskutiert, viele im Auto befürchten das Schlimmste. Am Stadttor von Solothurn versucht ein Student der Internationalen Beziehungen eine 19-Jährige zu überzeugen, gegen die Initiative zu stimmen. «Wieso sollt ich denn dagegen sein, dass Kriminelle abgeschoben werden?», blafft sie ihn an. «Die SVP will das für Bagatelldelikte einführen!», antwortet der Student. Erstaunt blickt sie auf: «Baga was?» Währenddessen sieht Flavia Kleiner am Bankautomaten, beim Geldabheben für die Verpflegung der Mitstreiter, dass ihr das Geld kaum reicht für die nächste Miete.


Später, am Parkplatz, diskutieren zwei Mitstreiterinnen, ob die London School of Economics die bessere Wahl wäre als die Genfer Hochschule für internationale Studien HEI. Flavia bedankt sich bei allen Teilnehmern, da ruft einer: «Wir machen das nicht für dich, sondern für die Schweiz.»


Vor über zwanzig Jahren brach Blocher auf, um den Eliten ihre Macht zu nehmen. Heute in Olten könnte er sehen, wie die aussichtsreichsten Akademikerkinder dieses Landes voll Angst und vor Kälte zitternd durch den Schneeregen ziehen, um samstagmorgens am Hammer 2 Shopping Center Flugblätter auszulegen. Ob es ihn freuen würde?


Am 17. Februar 2016, gegen fünf Uhr morgens, sitzt Flavia Kleiner vor ihrem Computer und knackt mit den Fingerknöcheln. Sie kann nicht anders, wenn sie nervös ist. Sie wartet auf die letzten Umfrageergebnisse. Um 5.35 Uhr endlich kommt die Mail. Erstmals sagt die Mehrheit Nein.


Es gibt keine Freudentränen und kein Champagnerbad elf Tage später, am Abstimmungstag in Bern. Als Flavia Kleiner um 13.23 Uhr für das Fernsehinterview im Bellevue Palace über den Bundesplatz eilt, ruft ihr einer ihrer Begleiter zu, ob sie nicht einfach eine Siegesbotschaft durchgeben wolle: «Willst du nicht verkünden, dass eine neue Zeit angebrochen ist? Dass der Mythos SVP am Ende ist?»


Sie hebt den Kopf, schaut nach vorne und schüttelt ihren Lockenkopf: «Nein. Noch nicht. Heute noch nicht.»

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