An einem Sonntagabend um 21.59 Uhr reihte ich mich in die etwa dreissig Meter lange Warteschlange vor der neu eröffneten Gelateria di Berna im Zürcher Kreis 3 an. Mein Herz pochte, weil ich mit dem Rad durch die immer noch erhitzte Stadt gerast war, in der Hoffnung, dieses exzellente Schokoladesorbet zu ergattern. Und ich machte mir Sorgen. Die Gelateria schliesst um 22 Uhr. In den Wochen zuvor hatte ich oft gesehen, wie einer der Glaceverkäufer vor Ladenschluss ans Ende der Schlange ging. Es gab stets eine Diskussion mit den Wartenden, dann Kopfschütteln, bis die Abgewiesenen verschwanden. Manche gingen lächelnd. Der Glaceverkäufer schien etwas auszuhändigen. Einen Glacebon? Der Mann hatte die Aufgabe, die Schlange aufzulösen. Kindern den kleinen Traum von der Glace zu nehmen. Ein unangenehmer Job. Ich fragte mich, wie er das machte, ohne den Ruf des Ladens zu ruinieren und Kunden zu verlieren. Und jetzt fragte ich mich, wie es heut für mich ausgehen würde.
Countdown zum Bürgerkrieg
Eigentlich sind Warteschlangen etwas Gutes. Ein zivilisierter Umgang mit Knappheit. Das Gegenteil der Schlange ist das Gedränge. Im Gedränge gilt das Recht des Stärkeren. In der Schlange sind alle Menschen gleich. Hier gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Revolutionär veranlagte Menschen ärgern sich über Warteschlangen. Die richtige Antwort auf den Skandal der Knappheit, so finden sie, sei nicht die Disziplin, sondern die Meuterei, die Auflösung der Ordnung, das Chaos. Es gibt deswegen eine Art der Unruhe in Warteschlangen, die viel tiefer geht als nur die Ungeduld der Wartenden.
Bilder grosser Warteschlangen sind oft Inbegriff einer nahenden oder bereits eingetretenen Krise. Die Warteschlangen an den Aussengrenzen der EU. Die Schlangen der Durstigen vor den Notlieferungen mit Wasser. Die manchmal kilometerlangen Schlangen in Venezuela sind der Countdown zum Bürgerkrieg. Vielleicht brachten wütende Wartende die Mauer zu Fall. Die vordergründige Ordnung der Schlange ist in Wahrheit die Vorstufe zur Revolution. Hier bildet sich kritische Masse. Schlangen sind Zeichen einer Systemstörung.
Für Ökonomen ist die Schlange ein eigener Forschungsbereich: die Warteschlangentheorie, ein Unterfeld des Operations Research, in dem Ökonomen mit Mathematikern und Physikern zusammenarbeiten. Das Ziel ist, ein möglichst wartefreies Gleichgewicht zu erreichen, in dem die Nachfrage dem Angebot entspricht. Oder, wie das Theorem des Forschers John D. C. Little lautet: Die durchschnittliche Anzahl von Kunden in einem Wartesystem, welches sich in einem stabilen Zustand befindet, muss gleich dem Produkt der durchschnittlichen Ankunftsrate und der durchschnittlichen Verweildauer im System sein. Aus diesem Denken heraus entstanden Systeme wie Expressschlangen, Tickets oder die Einheitsschlange, die sich später aufteilt. Psychologen haben dem Phänomen unzählige Studien und Experimente gewidmet. Die Kernerkenntnis: Die Unzufriedenheit mit dem Schlangestehen hat oft weniger mit dem Warten an sich zu tun als damit, dass wir mit dieser freien Zeit nichts anzufangen wissen. Was beim Warten so nervt, ist das Gefühl, kostbare Zeit zu verlieren. Ökonomen messen den Schmerz des Wartens in sogenannten Opportunity Costs, also in während der Wartezeit entgangenen Möglichkeiten, Geld zu verdienen oder anderweitig Spass zu haben. In Disneyland hat man die Wartezonen deshalb erfolgreich in Erlebniswelten umgebaut; was während des Wartens geschieht, ist mitunter interessanter als das, worauf du wartest.
Ein anderer Ansatz im Kampf gegen die Schlange ist, sie unsichtbar werden zu lassen. Das begann mit dem Callcenter, dann kam das Internet. Der Erfolg des Internethandels beruht darauf, dass man bei Amazon oder Zalando nicht merkt, dass man eigentlich 24 Stunden in der Schlange stand.
Nike vs. Adidas
King im Marketing ist heute, wer es schafft, in einer Welt des Überflusses Produkte anzubieten, für die man gern ansteht, denn Warteschlangen signalisieren: Wer hier nicht dabei ist, verpasst das Leben. Die besten Partys sind jene, in die wir nicht reinkommen. Das interessanteste Produkt ist das, das bereits vergriffen ist. Man kennt die Schlangen, wenn Apple neue Phones lanciert oder H & M eine Designerkollaboration bekannt gibt. Beispielhaft das Duell zwischen Nike und Adidas – eigentlich Hersteller von Laufschuhen, heute auch von Warteschlangen.
Zur Warteschlangen-Strategie gehört die künstliche Verknappung. Also die Produktion von weit unter der Nachfrage liegenden Stückzahlen. Ein Beispiel: Die Turnschuhhersteller beschliessen die Produktion einer Sonderedition – wie der von Popstar Kanye West gestaltete Adidas «Yeezy» – oder die Neuauflage eines vergriffenen Modells. Aber nur 250 Paar für ganz Westeuropa. Die werden an ein paar angesagte Shops vergeben, etwa 30 Paar je. Nun ist es am Shop, den Kunden, oft ausschliesslich via Instagram, den Verkaufsbeginn bekannt zu geben. Stunden, manchmal sogar Tage vor dem Verkaufstermin beginnt ein «Campout»: Horden meist junger Männer stellen sich an, Ladenmitarbeiter beginnen deren Reihenfolge zu erfassen, erstellen Namenslisten inklusive Angabe der Wunschgrösse. Natürlich gibt es nicht genug für alle. 250 Paar für ganz Westeuropa? So lange sind fast schon die Schlangen vor Läden wie der Berner Kette Titolo mit Filialen in Zürich und Basel (687 800 Instagram-Follower).
Beim Weltmarktführer der Schlangenproduktion, der Streetwearfirma Supreme, geht es sogar nur noch um künstliche Verknappung. Verkaufsschlager ist ein simples Shirt mit dem rot unterlegten Firmennamen. Die Schlangen vor der Filiale in Manhattan sind dafür oft mehrere Blocks lang. Am Schluss gehen die meisten leer aus und werden, falls sie meckern, noch verjagt. Vor so viel Kundentreue verneigen sich sogar die Marketingmanager von Nike und Adidas.
Vorläufiger Höhepunkt der Warteschlangeneuphorie war der 11. März 2017, genauer: der Vorabend. Da beschloss Nike, die Schlange an sich zu feiern: in Berlin, beim Camp-out vor dem «Overkill Shop» anlässlich des Launchs eines «ultralimitierten» Schuhs mit dem bezeichnenden Namen «Master of Air» (der millionenfach verkaufte «Air Max 1» – mit bunten Elementen). Statt wie sonst die Wartenden im Regen stehen zu lassen, verteilte Nike Regenschirme, stellte Heizstrahler auf, im Schaufenster lief eine Turnschuh-Designdoku, die man via Bluetooth ans Schlangenende streamte. Es gab Pizza, Zahnbürsten, Toiletten und ein Überraschungskonzert.
Das Ganze war ein solcher Erfolg, dass man zwei Wochen später die Rapper von KMN (kurz für: Kiss My Nikes) auftreten liess. Den 26. März hat Nike zum «Air Max Day» ernannt und hofft, dass die Kinder an diesem falschen Feiertag die Schule schwänzen, um Schlange zu stehen.
Durch den Verkauf solch limitierter Stücke nimmt der Hersteller etwa 4000 Franken ein, die Marketingkosten am 11. März betrugen etwa das Zehnfache. Was soll das?
Der Return on Investment wird gemessen am Social-Media-Impact. Das heisst: an den Bildern von Schuhen, die Käufer auf Instagram streuen, den Shares und Likes auf Facebook. Der Zweck der Schlange besteht für die Hersteller also streng genommen im Outsourcing des Marketings. An erster Stelle stehen «Influencer», Leute mit besonderer Ausstrahlung in einer grösseren Gruppe, die man «Early Adopters» nennt: Meinungsführer, die neue Versuche der Influencer genau beobachten, sich ihnen dann anschliessen und Schuhe im Rahmen eines zweiten Launches erstehen. Sie tragen dann als unbezahlte Werbeplakate den Schuh in die breite Masse, die das Modell zu einem späteren Zeitpunkt kaufen kann, wenn das Produkt ausgeschlachtet wird. Am Anfang dieser Kette steht die Hysterie, die sich in der Schlange für ein Produkt entwickelt.
Das Ganze ist ein doppeltes Geschäft, denn das Schlangestehen ist längst professionalisiert worden. «Reseller», Wiederverkäufer, bezahlen Schüler, manchmal sogar Obdachlose fürs Schlangestehen, der Lohn bemisst sich dabei am Wiederverkaufswert des Schuhs. Der Kaws Jordan 4, die Veloursleder-Version eines bekannten Basketballschuhs, kostete im Laden 350 Franken. Der Wiederverkaufswert im Netz lag sofort über 1200 Franken. Tageslohn für Ansteher in diesem Fall: rund 100 Franken, bei Wartezeiten von bis zu drei Tagen.
Natürlich sind Warteschlangen in der westlichen Welt nicht Resultat echter Knappheit, sondern Ergebnis ausgefeilter Verkaufstechniken. In seiner radikalsten Form sieht der Kapitalismus wie der Kommunismus aus. Vielleicht kursieren irgendwo in Nordkorea Bilder dieser Schlangen als Beleg für das Elend im Westen, wo die Menschen einer perfiden Illusion anhängen: dem Glauben, dass sie am glücklichsten wären mit den Dingen, die am schwersten zu bekommen sind.
Punkt 22 Uhr vor der Zürcher Gelateria di Berna stand dann der Verkäufer vor mir, in der Hand ein Schild: «Chiuso». Er schlug mir einen Deal vor. Wenn ich das Schild trage und keinen mehr hinter mir anstehen lasse, bekomme ich eine Glace – gratis.
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