Das Magazin: Herr McAfee, ich sorge mich um die Zukunft des Planeten. Sie nicht. Warum?
Andrew McAfee: Sie müssen sich keine Sorgen machen. Wir kennen für alle grossen ökologischen Probleme bereits die Lösungen.
Und die lauten? Aufs Land ziehen und Konsum-verzicht üben?
Im Gegenteil. Sie sollten in der Stadt wohnen und auf Biolebensmittel verzichten. Die Änderung Ihrer persönlichen Gewohnheiten hat einen geringeren Effekt, als wählen zu gehen und eine Politik zu unterstützen, die in der gesamten Wirtschaft funktionieren wird. Wenn Sie Ihren ökologischen Fussabdruck verkleinern wollen, ziehen Sie nicht aufs Land. Und kaufen Sie Lebensmittel, die aus intensiver Landwirtschaft kommen.
Warum das denn?
Der biologische Landbau hat einen grösseren ökologischen Fussabdruck als die sogenannte industrielle Landwirtschaft.
Ich habe das Gegenteil gelesen, viele Male.
Biolandwirtschaft ist zwar weniger schädlich pro Flächeneinheit, braucht aber mehr Fläche, um die gleiche Menge Lebensmittel hervorzubringen. Eine 2018 im Magazin «Nature Sustainability» erschienene Studie zeigt: Es ist für die Umwelt auf mehreren Ebenen besser, wenn wir die Landwirtschaft auf weniger Fläche intensiv konzentrieren und den Rest verwildern lassen.
Sollten wir nicht weniger konsumieren? Je mehr Wirtschaftswachstum, desto mehr Ressourcenverbrauch – und desto mehr Umweltzerstörung.
Das ist völlig falsch. In Wahrheit sorgt der wirtschaftliche Wettbewerb dafür, dass wir immer weniger verbrauchen.
Wie meinen Sie das?
Das Wirtschaftswachstum entkoppelt sich gerade vom Ressourcenverbrauch. Die Wirtschaft wächst und verbraucht gleichzeitig weniger. Wir befinden uns am Beginn einer grossen Entmaterialisierung.
Was meinen Sie damit?
Die Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch. Eines meiner Lieblingsbeispiele: Die USA sind ein gigantischer landwirtschaftlicher Produzent. Wir haben gute Daten zu Input und Output, bis zurück in die 1950er-Jahre. Der Output geht stets nach oben. Aber wenn man die Inputs betrachtet – Düngemittel, Wasser und Ackerland –, sieht das ganz anders aus. Der Gesamtdüngemitteleinsatz stagniert seit etwa dreissig Jahren. In den USA nimmt der gesamthafte Wasserverbrauch der Landwirtschaft über die Zeit ebenso ab wie die Anbaufläche. Seit Anfang der 80er-Jahre haben wir der Natur Ackerland zurückgegeben, in der Gesamtfläche des Staates Washington. Wenn man diese Böden nicht mehr bewirtschaftet, kehrt die Natur zurück. Für mich ist diese Intensivierung der Landwirtschaft eine sehr gute Nachricht.
Vielleicht läuft es in der Landwirtschaft besser, aber dafür kommen ständig neue Produkte auf den Markt. Heute hat jeder ein Telefon in der Tasche!
Das Smartphone war ein ökologisches Wunder! Wissen Sie, was da alles drinsteckt? Wir hätten heute viel mehr Kameras, Videorekorder, DVD-Player, CD-Player, Uhrenradios, Anrufbeantworter oder Faxgeräte. Wenn ich an all die Geräte denke, die durch das Smartphone ersetzt wurden, verstehe ich auch, warum sich der Trend beim Stromverbrauch der Haushalte in den USA gedreht hat.
Dabei verbraucht beispielsweise das Streaming von Videos und Musik doch immer mehr Energie!
Wären all die digitalen Industrien so energieintensiv, müsste der Stromverbrauch in Amerika ansteigen. Das Gegenteil ist der Fall. Selbst im Aufschwung nach der Wirtschaftskrise 2008 war der US-Stromverbrauch 2017 niedriger als im Spitzenjahr 2008.
Und wie sieht es in der physischen Welt aus? Bei manchen Industrien wie Textilien wurde die Produktion wohl einfach ins Ausland verlagert. Wird das Problem nicht nur aus dem Blickfeld geschoben? Wir alle bestellen zunehmend online. Da muss doch etwa der Kartonverbrauch steigen.
Nein. Trotz der Explosion im Onlinehandel stagniert der Kartonverbrauch laut der Fibre Box Association seit 2000.
Liegt die von Ihnen gepriesene Entmaterialisierung nicht einfach daran, dass wir so viel recyceln?
Nein, Recycling hat nichts damit zu tun! Beim Recycling geht es darum, woher Rohstoffe kommen. Um die Angebotsseite. Entmaterialisierung aber entsteht dadurch, dass eine Ressource weniger nachgefragt wird.
BILD: WOLF HEIDER-SAWALL/LAIF/KEYSTONE
Was also sind die Gründe für diese Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch?
Ressourcen kosten Geld. Karton kostet Geld. Ein Rappen gespart ist ein Rappen verdient. Daher wird eingespart. 1959 wogen die ersten Alu-Bierbüchsen 85 Gramm. 2011 waren es noch 12.75 Gramm. Heute sind wir teilweise bei unter 9.5 Gramm. Das gilt in der gesamten Wirtschaft. In allen Wertschöpfungsketten und allen Vertriebskanälen. Wenn Jeff Bezos mir Pakete schicken will, muss er den Karton bezahlen.
Macht nicht der sogenannte Rebound-Effekt alle Einsparungen kaputt? Wenn Amazon Ressourcen spart bei Kartonverpackungen, kann die Firma mit dem frei werdenden Kapital umso günstigeren Versand anbieten – was wiederum die Nachfrage erhöht. Oder: Wir haben immer effizientere Motoren. Das wiederum bringt Menschen dazu, sich grössere Autos zu kaufen, SUVs beispielsweise. Der Durchschnittsverbrauch der neu zugelassenen Fahrzeuge stieg in der Schweiz beispielsweise 2018 um vier Prozent an. In der Summe stagniert der Treibstoffverbrauch bestenfalls. In Deutschland stieg er 2019 sogar – trotz aller theoretischen Einsparungen!
Manche glauben, der Rebound-Effekt sei eine Art Naturgesetz, aber so einfach ist es nicht. Die Rebound-Diskussion geht bis 1865 zurück, als William S. Jevons, ein Ökonom, behauptete: «Wenn wir effizienter bei der Verwendung von Kohle werden, werden wir insgesamt mehr Kohle verbrauchen – nicht weniger.» In Wahrheit geht es um die sogenannte Preiselastizität der Nachfrage nach einer bestimmten Ressource während eines bestimmten Stands der Technik. Wenn man sich zum Beispiel die Motoren dieser grösseren Autos ansieht, werden sie im Laufe der Zeit immer leichter und leistungsfähiger. Am Ende sind sie kraftstoffsparender. Das ist das Gegenteil des Rebound-Effekts.
Der globale Ressourcennutzung hat sich zwischen 1970 und 2017 verdreifacht. Und die UNO prognostiziert weitere Steigerungen.
Wir erleben grade den Beginn einer absoluten Entmaterialisierung in den USA und sehr reichen Ländern – für viele Ressourcen. Ich glaube, dieser Trend wird sich weltweit ausbreiten. Wir sind in einem fundamentalen Wandel: Heute sehen wir erst bei wenigen Ressourcen eine absolute globale Entmaterialisierung. Bei den meisten ist noch nicht einmal der Höhepunkt im Verbrauch überschritten. Aber Trends müssen irgendwo beginnen. In Nigeria wächst die Bevölkerung beispielsweise rasant. Aber weil es jetzt Mobilfunk gibt, wird Nigeria nie ein Kupferdraht-Telefonnetz aufbauen müssen.
Reicht uns die Zeit dafür? Wäre nicht die gezielte Wirtschaftsschrumpfung die bessere Lösung?
Die Lösung von welchem Problem?
Dass unser global immer noch wachsender Konsum von fast allem irgendwann an ein Limit stösst.
Wenn es wahr wäre, dass wir an unsere Grenzen stossen, müssten die Preise explodieren. Das Erste, was wir bei Knappheit sehen müssten, wären steigende Ressourcenpreise. Stattdessen erleben wir das Gegenteil: Erschwinglichkeit statt Knappheit. Der Simon-Abundance-Index misst die Erschwinglichkeit eines durchschnittlichen Ressourcenbündels, wie Nahrungsmittel, Mineralien, fossile Brennstoffe, Holz und Papier, Wolle und Baumwolle. Massstab ist die Kaufkraft eines durchschnittlichen Arbeiters, weltweit. Ergebnis: Jedes einzelne Ressourcenbündel wurde seit 1980 erschwinglicher. Während die Bevölkerung so stark wuchs wie niemals zuvor.
So sah es vielleicht bisher aus – aber das könnte sich ja ändern. Oder?
Es gibt kein Anzeichen dafür, dass die Ressourcen, die wir für unseren Wohlstand benötigen, knapper werden. Im Gegenteil. Zudem werden Bevölkerungswachstum und Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahrzehnten sowieso geringer sein. Ich bin nicht besorgt.
Während Australien brennt, sorgen Sie sich um nichts?
Doch. Wir müssen uns Sorgen um die Nebenwirkungen der Produktion von Dingen machen. Die Verschmutzung – einschliesslich der Treibhausgase, also des Kohlenstoffdioxids. Und die Ausbeutung und Ausrottung von Tierarten. Das sind echte Probleme. Aber wir können die Lage verbessern, während wir unsere Wirtschaft ausbauen.
Noch mal: Würden wir weniger verbrauchen, würde die Umweltverschmutzung nicht geringer?
Wollen die Menschen wirklich eine von oben zentral geplante, dauerhafte, tief gehende Rezession? Ich denke: nein.
Vertreter der neuen weltweiten Klimabewegung Extinction Rebellion fordern zu akzeptieren, dass wir den katastrophalen Klimawandel nicht mehr stoppen können – und dass wir uns daher von den Küsten zurückziehen, die Kernkraftwerke dort rückbauen … Also Rückzug oder Untergang.
Haben sich unsere Freunde in den Niederlanden nicht ganz gut an das Leben unter dem Meeresspiegel angepasst?
Ja, das haben sie. Aber es ist teuer …
Auf keinen Fall sollten wir uns von der Kernenergie abwenden. Atomstrom ist unsere einzige Energiequelle, die sehr wenig Treibhausgase ausstösst, skalierbar ist, und – das hören viele nicht gerne – sie ist zudem die sicherste Energiequelle. Die Daten sind überwältigend, was Verletzungsraten, Unfallraten und auch die Todesraten angeht.
Meinen Sie ernsthaft, Windräder sind gefährlicher als Atomkraftwerke?
Wissenschaftsjournalist Brian Wang hat die Todesfälle pro Terawattstunde errechnet. Nuklearenergie ist am ungefährlichsten. Sie liegt bei 0.04 Todesfällen pro Terawattstunde, Windenergie bei 0.15. Öl vergleichsweise bei 52.
In der Schweiz wurde eben die Abschaltung eines Kernkraftwerks gefeiert. Die grüne Bewegung
kritisiert oft, dass ihre Gegner wissenschaftliche Fakten leugnen. Nun behaupten Sie, viele Umwelt-schützer argumentierten ebenso unlauter.
Würden die Grünen den Fakten folgen, müssten sie Kernkraft und Gentechnik unterstützen. Aber Greenpeace beispielsweise bekämpft den Anbau von «Golden Rice», der dank Gentechnik mehr Beta-Carotine enthält. Dabei könnte dieser Reis viele Kinder in den ärmsten Ländern vor Blindheit bewahren. Das verstehe ich nicht. Das ist moralisches Versagen!
Wenn man Ihr neues Buch, «More from less», liest, bekommt man das Gefühl, es sei im Kern die gross angelegte Widerlegung von Thomas Malthus’ Aufsatz aus dem Jahr 1798 – der die Umweltbewegungen bis heute verwirre, wie Sie behaupten. Der britische Moralphilosoph Malthus sagt, es gebe Grenzen des Wachstums.
Malthus vermutete, dass die Menschen der Erde nicht genügend Ressourcen, insbesondere Nahrung, entringen können, um eine grosse Bevölkerung zu ernähren. Er glaubte, dass wir auf ewig zu einem unangenehmen Hin und Her verdammt seien. Wenn es viele Menschen gibt, die sehr arm sind, werden viele von ihnen verhungern. Also sinkt die Gesamtbevölkerungszahl. Wenn es weniger Menschen gibt, bleiben jedem mehr Ressourcen, die Menschen werden wohlhabender, ihre Familien wachsen – und dann sind wir wieder in der Ausgangssituation, in der es nicht genug gibt, und das Sterben beginnt wieder. Ursprünglich hatte Malthus sogar recht, wenn man englische Statistiken über die Bevölkerungs- und Wohlstandsentwicklung anschaut. Über Jahrtausende hatte sich die Lage der Menschheit nicht entscheidend verbessert. Doch genau Ende des 18. Jahrhunderts, als er seinen Aufsatz veröffentlichte, begann ja die industrielle Revolution und veränderte alles. Die Menschheit bekam plötzlich Zugang zu unglaublichen Mengen an Energie aus fossilen Brennstoffen. Das liess uns aus Malthus’ Falle ausbrechen. Bevölkerung und Wohlstand wuchsen fortan gleichzeitig!
War die industrielle Revolution nicht eine schlimme Zeit der Ausbeutung? So wird sie oft beschrieben.
Ich vermute, dass genau dieser Übergang von vorindustriell zu industriell der grösste Fortschritt ist, den die Menschheit je erlebt hat.
Ist die Entmaterialisierung, die materielle Entkopplung, dann jetzt der zweite grosse Sprung nach vorn?
Bereits in den 1980er-Jahren begannen wir, eine relative Entkopplung zu beobachten, das heisst, dass der Ressourcenverbrauch nicht mehr genauso wächst wie die Wirtschaft. Bei vielen Ressourcen, wie eben Agrarfläche, hat sich in den USA daraus etwa ab dem Jahr 2000 sogar eine absolute Entkopplung entwickelt. Der Ressourcenverbrauch sinkt also trotz Wirtschaftswachstum.
Sie glauben also, das heutige Wirtschaftssystem sei das richtige, um die aktuelle Klimakatastrophe zu bewältigen und die globale Erwärmung zu stoppen.
Der Kapitalismus allein wird die Welt nicht heilen. Märkte machen viele Dinge erstaunlich gut, aber sie regeln nicht die schlechten Nebenwirkungen. Dafür haben wir ein gutes politisches Instrumentarium. Machen wir also Umweltverschmutzung einfach teuer, und Unternehmer werden sie verringern. Aktuell verteuert die Schweiz Kohlenstoffdioxid. Ich finde das wunderbar! Der Rest der Welt sollte folgen.
Also braucht es mehr staatliche Eingriffe.
Nein! Der Staat soll Grenzen setzen, der Markt handeln. Die Art und Weise, wie Sie die Umweltverschmutzung reduzieren, erfolgt über staatliche Regulierungen. Beispiel: Das Cap-and-Trade-Programm für die Schwefeldioxidbelastung in Nordamerika und Europa ist ein von Regierungen auferlegtes System, das die Verschmutzung durch Firmen sehr gut beschränkt.
Im Fazit Ihres Buches resümieren Sie, dieser wunderbare Trend der Effizienz werde sich, ausgehend von den USA, auch auf ärmere Länder ausbreiten.
Ich habe Hoffnung. Aber wenn sich Menschen wie etwa die Impfgegner oder die Gentechnikhasser von Beweisen und Wissenschaften abwenden, ist das sehr beängstigend. Meine grösste Sorge ist, dass Perioden tief greifender technologischer und gesellschaftlicher Veränderungen sehr schlechte, langfristig wirksame Ideen mit sich bringen können. So, wie die industrielle Revolution den Marxismus hervorgebracht hat. Eine der schlimmsten Ideen, die wir jemals hatten. Die Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts haben uns den Faschismus gebracht, der im Laufe des 20. Jahrhunderts unglaublich schädlich gewesen ist.
Ist Donald Trump eigentlich in der Lage, diese Entmaterialisierung, den positiven Trend umzukehren?
Der Ressourcenverbrauch sinkt aufgrund des Marktdrucks, der Kosten. Dieser Druck hält in wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften an, beinahe unabhängig davon, wer politisch führt. Auch Donald Trump wird uns nicht zwingen können, mehr Ressourcen zu verbrauchen. Die Entmaterialisierung ist ein erstaunlicher Trend, und wir können ihn beschleunigen, wenn wir ein paar smarte Entscheidungen treffen: empfindliche Arten und Ökosysteme schützen, in die Entwicklung sauberer Energie investieren und Umweltverschmutzung wie Treibhausgase so teuer machen, dass Unternehmen damit aufhören. Ich denke, bis zum Ende des 21. Jahrhunderts werden wir Menschen unseren ökologischen Fussabdruck auf dem Planeten Erde stark verkleinert haben, und immer mehr Land wird an die Natur zurückgegeben. Wir werden die Rückkehr der Wildnis erleben. Tiere, die zurückkehren, ganze Arten. Ökosysteme, die gesünder werden.
Literatur
• Andrew McAfee, «More from less», Scribner • Steven Pinker, «Aufklärung jetzt», Verlag S. Fischer
Sehenswert
Auf der Webseite longbets.org (die von Amazon- Gründer Jeff Bezos finanziert wird) kann man gegen Andrew McAfees Vorhersagen Wetten abschliessen.