Die nächste Stadt liegt mehr als eine halbe Autostunde entfernt. Den genauen Ort, das habe ich ihm versprochen, darf ich nicht verraten. Irgendwann hinter Leipzig wird es hügelig, Nadelwald verdrängt die Birken, die Strassen werden schmaler. In einem engen Tal folgt die Strasse einem Bach; dann kommt ein letzter Weiler, ein letztes Haus; zuletzt schluckt der dunkelgrüne Forst die kleine Strasse.
Google Maps kennt die Adresse nicht, die Ben mir gegeben hat. Nach einigen Kilometern sehe ich rechter Hand eine Lichtung. Hinter einem mit Schlingpflanzen überwachsenen Stahltor erkenne ich zwei heruntergekommene Kasernengebäude auf einem verlassen wirkenden Gelände. Das Tor ist verschlossen. Niemand zu sehen. Ich hupe und warte auf Benjamin Green.
Ben war früher ein Arbeitskollege, Teamleiter in der IT-Abteilung. Ein gebürtiger Brite, der fast perfekt Deutsch spricht. Manchmal unterhielten wir uns auf dem Gang. Als meine Redaktion innerhalb der Verlagsgebäude umzog, verloren wir uns ein wenig aus den Augen, und ich habe lange Zeit gar nicht mitbekommen, dass Ben verschwunden war. Und dass niemand wusste, wohin.
Durch Zufall traf ich Benjamin Green wieder, auf seinem wahrscheinlich letzten Flug. Am 25. Februar 2019, 13.40 Uhr, von Zürich nach Berlin. Eine kleine Maschine, ziemlich leer. Die hochgeschossene Gestalt mit den rotblonden Locken war nicht zu übersehen. Er trug wie immer Jeans und Kapuzenpullover, dazu Trekkingschuhe. Ben! Erfreut setzte ich mich zu ihm.
Er sei auf dem Weg nach Berlin, um seine Wohnung zu verkaufen, sagte Ben.
«Wieso?», fragte ich verwundert. Angesichts der steigenden Preise in Berlin ist eine Immobilie dort doch eine grossartige Anlage.
«Brauche ich nicht mehr», sagte er.
«Du kehrst nach England zurück?»
Ben schüttelte den Kopf. Er habe im Osten Deutschlands ein Grundstück gekauft und wolle fortan autark leben. «We’re fucked», sagte er. «Niemand kann es mehr stoppen. Es ist zu spät.»
Mir fiel ein, dass Ben schon vor längerem einmal erwähnt hatte, dass er einen Bauernhof suche – Selbstversorgung. Ich hatte es für einen Scherz gehalten, für das Hobby eines gut verdienenden, veganen Programmierers. Ich hatte ihn gefragt, ob er ein Prepper sei, einer dieser bewaffneten Apokalyptiker, die sich seit einigen Jahren in den USA ausbreiten.
Die Schweizer Höfe seien zu teuer, erklärte er mir nun im Flugzeug. Darum Ostdeutschland.
«Wo denn genau?», fragte ich.
«In Sachsen, ziemlich abgelegen», antwortete Ben.
«2018 sind zwei Sachen passiert», sagte er dann. «Kannst du dich an den Hurrikan in Irland erinnern? Das hielt man früher für unmöglich. So etwas gab es einfach nicht in diesen Breitengraden. Und dann gab es die Brände in der Arktis.» Ben schaute mich mit seinen hellblauen Augen an: «Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen – Waldbrände in der Arktis.»
Unsere Welt, sagte er, sei am Kollabieren. «Zum Glück bin ich aus meinem Job raus. Sonst wäre es irgendwann zu spät gewesen auszusteigen. Ich brauche mindestens drei Jahre, um mich vorzubereiten.»
Ich hatte von Tech-Milliardären gehört, die sich in Neuseeland luxuriöse Bunker gebaut haben. Ich hatte von verrückten Aussenseitern, von radikalen Ökos und religiösen Fundis gelesen, die aussteigen. Ben aber war nichts von alledem.
«Kann man dich besuchen?», fragte ich.
«Ich hab weder Internet noch Telefon. Aber du kannst es versuchen.» Sein einziger Kommunikationskanal sei Instagram. Er gab mir seinen Accountnamen, @thepirateben, und versprach zu antworten, wenn er an einem offenen Wi-Fi vorbeikomme.
Ich schaute ihn von der Seite an. War er durchgeknallt, oder verstand ich den Ernst der Lage nicht?
«Jedes Mal, wenn ich glaube, verrückt zu sein», sagte Ben, als hätte er meine Gedanken gelesen, «schaue ich auf die Zahlen.»
Man kann sich ertränken in apokalyptischen Zahlen. Dieses Frühjahr kam die Meldung, dass eine Million Arten weltweit vom Aussterben bedroht sind. Forscher sprechen vom «sechsten Massensterben» in der Erdgeschichte. Das fünfte bedeutete das Ende der Dinosaurier. Eine andere Zahl: Ebenfalls dieses Jahr hat der Anteil an CO2 in der Luft einen weiteren Rekord gebrochen: 415 ppm. Noch bis vor kurzem galten 350 ppm als unüberschreitbare Grenze, um eine unumkehrbare Zerstörung unseres Lebensraumes auszuschliessen. Wissenschaftler fürchten einen «Runaway»-Effekt: einen galoppierenden, chaotischen Klimawandel. Wenn etwa das Eis der Arktis erst einmal geschmolzen ist, beginnt der Nordpol die Erde zu heizen, statt sie zu kühlen. Weil kein weisses Eis mehr Sonnenlicht zurückwirft, sondern nun dunkler Boden die Sonnenenergie speichert.
Ein Problem mit dem Klimawandel ist, dass man ihn so schwer fassen kann. Das Thema ist zu gross und gleichzeitig zu kleinteilig. Alles hängt mit allem zusammen. Unsere Instrumente spüren Phänomene auf, die wir nicht begreifen. Wir lesen von Szenarien, die wir uns nicht vorstellen können. Wir wissen, dass die Welt, wie wir sie kennen, im Begriff ist zu kollabieren – und dennoch wollen wir es nicht wahrhaben.
Der französische Soziologe Bruno Latour, der sich seit Jahrzehnten mit dem Klimawandel auseinandersetzt, glaubt, die Erderwärmung sei der tiefere Grund für die politischen Unruhen der letzten Jahre. Wir hätten unseren Halt verloren, weil wir keinen Glauben mehr an die Zukunft haben. Zukunftspläne seien wertlos geworden, weil wir nicht mehr sicher sein können, dass es überhaupt eine Zukunft gibt.
2017 versuchte der Journalist David Wallace- Wells zu beschreiben, was diese abstrakte Information für ihn bedeutet. Was wird mir, realistisch betrachtet, passieren? Wallace-Wells ist kein Öko. Er fliegt in die Ferien und besitzt energiefressende Bitcoins. Doch er recherchierte monatelang, las zahllose wissenschaftliche Studien, diskutierte mit führenden Klimaforschern.
Schliesslich fasste er seine Resultate in einem Buch zusammen: «The Uninhabitable Earth». Das Werk schaffte es in die Bestsellerliste der «New York Times» und erscheint nun auch auf Deutsch: «Die unbewohnbare Erde – Leben nach der Erderwärmung». Wallace-Wells beschreibt darin den Hitzetod in den Städten, wenn der Asphalt schmilzt. Er beschreibt, wie die Lebensmittelversorgung kollabiert, weil ein Grossteil des Ackerlands verloren geht. Er beschreibt, wie Menschen vor Überschwemmungen von den Küsten ins Landesinnere fliehen.
Globale Klimaabkommen, wie zuletzt in Paris, streben eine maximale Erwärmung von 1,5 bis 2 Grad an. Das sei mittlerweile eine Illusion, meint Wallace-Wells. Erstens: Filterten wir weltweit den Feinstaub aus der Luft, der uns derzeit wie ein Sonnenschirm schützt, seien wir bereits bei fast 1,5 Grad Erwärmung. Zweitens, so fand er heraus, beinhalten die in den Klimaverträgen formulierten Vorgehensweisen, um diese Grenzwerte nicht zu überschreiten, Fantasie-Technologien, die nicht einsatzbereit sind. Seine Thesen sind weder extrem, noch ist Wallace-Wells mit ihnen allein. An der Universität Cambridge gibt es sogar ein Institut, das sich mit dem Ende der Menschheit beschäftigt: das Centre for the Study of Existential Risk.
Einer ihrer Forscher, Simon Beard, stellt sich das Aussterben der Menschheit vor wie ein Buch, bei dem irgendwann die Seiten leer sind. Plötzlich schreibt niemand mehr die Geschichte fort. Ereignisse, die dazu führen könnten, nenne man in der Forschung «existenzielle Risiken». Der Klimawandel, so Beard, sei so ein Risiko, und zwar eines der Kategorie «Hard Problem»: ein Problem, welches a) die gesamte Menschheit bedroht, b) dessen Eintritt wahrscheinlich ist, c) bei dem die Lösung zwar prinzipiell bekannt ist – aber d) derart viel menschliche Kooperation erfordert, dass sie illusorisch scheint.
Und trotzdem bleibt Beard optimistisch. Er ist ein Vertreter jener liberalen Gesellschaft, die auf Statistiken schaut und konstatiert, dass es der Welt noch nie so gut ging wie heute. Kürzlich hat er sich Solarzellen auf sein Hausdach montiert. «Wir waren nie besser vorbereitet auf solche Herausforderungen», sagte er mir. Es werde völlig unterschätzt, wie vernetzt und koordiniert die Menschheit heute ist.
Was wir derzeit überall in der Welt beobachten, sind unterschiedliche Reaktionen auf die Frage: Wie gehen wir mit der Erkenntnis um, dass unsere Zivilisation kollabieren, die Menschheit vielleicht aussterben könnte? Und zwar vielleicht in weniger als hundert Jahren. Es ist ein furchteinflössender Gedanke. «Was mich beunruhigt», sagte Simon Beard, «sind die Strategien, die als Antwort auf diesen drohenden Kollaps formuliert werden: entweder zentral gesteuerte autoritäre Systeme oder die Zerlegung unserer Gesellschaft in mikroskopisch kleine Überlebenseinheiten.»
Mit «autoritären Systemen» meint Beard jene Bestrebungen, die Demokratie einzuschränken, um das Klima zu retten. Mit «mikroskopisch kleinen Überlebenseinheiten» meint er Aussteiger wie meinen Arbeitskollegen Ben Green in Sachsen.
Ich beschloss, Ben zu besuchen.
Anfang April stehe ich also vor einem rostigen Tor und hupe.
Benjamin kommt aus dem Waldstück hinter dem Tor. Als er mich erkennt, winkt er. Er sieht okay aus.
Die Kaserne ist Mitte der 1950er-Jahre errichtet und in den 90ern letztmals als Wohnheim genutzt worden. Seither stand sie leer. Bens neues Zuhause ist die einstöckige ehemalige Offizierskantine.
Neben der Eingangstür stapeln sich Töpfe und Geschirr. Eimer stehen an verschiedenen Stellen im Raum, vom teerschwarzen Dach tropft es herab. «Das ist bald geflickt», sagt Ben. In der Mitte des Raumes hat er einen weissen Flügel aufgestellt, Chopin-Noten. Über dem Bett an der Wand hängt ein «Pulp Fiction»-Poster.
Es ist kalt, die zerbrochenen Scheiben der Fensterfront sind überklebt. Er habe versucht einen Ofen einzubauen, sagt Ben verlegen, aber das Abzugsrohr falsch berechnet. «Die ersten Nächte», bemerkt er, ohne eine Miene zu verziehen, «war es dermassen kalt, dass ich überlegte, meinen Schlafsack anzuzünden, um mich aufzuwärmen.»
Wir gehen in den Keller. Ich schalte meine Taschenlampe ein. Ben hat noch keinen Strom, plant aber, einfache Windräder zu errichten, da er davon ausgeht, dass es für Solarzellen irgendwann keine Ersatzteile mehr geben wird. Er zeigt mir die früheren Gefängniszellen im Keller. Seltsame Apparate hat er da gefunden, eine metallene Bank mit Lederriemen, die nach einem Folterinstrument aussieht.
Das eine Kasernengebäude glaubt Ben bei Bedarf reaktivieren zu können. Das andere sei ruiniert, Kupferdiebe hätten alle Kabel gezogen. Aber alles zweitrangig, sagt Ben. Mit der Zeit würden sich Gleichgesinnte hier einfinden. Dafür betreibt er sein Instagram. Natürlich unter Tarnnamen und ohne Ortsangabe – er will keine Touristen und auch keine Spinner. Später, sagt Ben, werden wohl Flüchtlinge aus den Städten kommen. Sein Plan? Jahr eins: überleben. Jahr zwei: anbauen. Jahr drei: das gute Leben.
Er habe fünfeinhalb Hektar Land, davon seien etwa zwei grundsätzlich zum Anbau von Lebensmitteln geeignet. Ein Hektar reiche aus, um eine Familie durchzubringen, das sei die Faustregel. Wasserzufuhr hat Ben noch nicht, aber er ist optimistisch. «Hier habe ich eine Quelle entdeckt», sagt er und zeigt mir einen mit einer schmutzigen Brühe gefluteten Kellerraum. «Das werde ich instand setzen und Mais und Kartoffeln anbauen. Das wächst immer. Und in ein paar Jahren wird es hier deutlich wärmer sein. Das wird den Obstbäumen helfen.»
Der Putz an den Häusern bröckelt, ich sehe durch trübe Fenster in den tristen Nadelwald. Der hintere Teil des Geländes ist sumpfig, voller seltsamer Hügel und Baumstümpfe. Offensichtlich ein Panzerübungsplatz. Nichts davon ist urbares Ackerland. Ich bezweifle, dass Ben das allein schafft, ohne Maschinen, ohne landwirtschaftliches Fachwissen. Ben wischt meine Einwände mit einer Handbewegung weg. Das hier sei kein Biohofprojekt. «Es geht nur noch um ein paar Jahrzehnte.»
Die Zukunft, die Ben sieht, erinnert an «Children of Men», einen dystopischen Film, in dem die Menschheit im Begriff ist auszusterben und alle Hoffnung aufgegeben hat, weil niemand mehr Kinder bekommen kann. Die Wirtschaft kollabiert, alles ist erschüttert und sinnlos.
«Der Zusammenbruch ist doch schon überall sichtbar», sagt Ben ruhig. Die Klimakatastrophe habe längst begonnen. Die Menschen fügen die Puzzleteile nur noch nicht zusammen. «Diesen Sommer, wenn es heiss wird, werden sie es kapieren. Und wenn sie sich in ein paar Jahren in den Städten um Rattenfleisch prügeln, dann will ich nicht dabei sein.» Er zeigt mit einem Stock nach vorne. Auf dem Exerzierfeld, wo der Boden zu hart sei, um ihn umzugraben, werde er einen Tennisplatz einrichten. «Während die Welt untergeht, werde ich hier wie ein König leben.»
Ben Green kam die Idee auszusteigen nicht erst gestern. Bereits als Teenager in Birmingham, Mitte der 1980er-Jahre, war ihm beim Lesen der Zeitung etwas Seltsames aufgefallen: Es gab ständig Wetterrekorde. Der heisseste Tag, der trockenste Sommer. So etwas müsste doch extrem selten sein, bei jahrhundertelangen Beobachtungszeiträumen? Ende der 80er-Jahre dann sah der Treibhauseffekt, wie man damals sagte, noch nach einem lösbaren Problem aus.
Ben wollte bei sich selber anfangen. Er wurde Vegetarier, später Veganer. In seiner freien Zeit half er dem britischen Grünenpolitiker Rupert Read, verteilte Flyer, versuchte zu mobilisieren. Doch ständig las er von schmelzenden Gletschern, neuen Hitzerekorden, von Wechselwirkungen und Langzeiteffekten. Keines der Klimaabkommen wurde eingehalten. In den Nullerjahren schliesslich begann Bens Hoffnung zu schwinden. Dann kamen der Hurrikan in Irland und die Waldbrände in der Arktis. Ben entschied sich zu handeln .
Eine Bewegung, die eine ähnliche Analyse wie Benjamin Green macht, aber völlig andere Schlüsse zieht, ist die «Extinction Rebellion», die Rebellion gegen das Aussterben. Sie ist eine der treibenden Kräfte hinter den Klimastreiks, die in den letzten Monaten Millionen auf die Strassen gebracht haben. Eine Art radikalisiertes Greenpeace für die Generation Klima.
Ihr Logo ist ein X in einem Kreis – eine stilisierte Sanduhr; sie erinnert daran, dass nur noch wenig Zeit bleibt. Die Leute von Extinction Rebellion sagen, dass die Regierungen weltweit das Ruder innerhalb von zwölf Monaten herumreissen müssen, damit bis 2025 der weltweite Kohlenstoffdioxid-Ausstoss auf null gesenkt wird. Andernfalls werde unsere Zivilisation 2045 kollabieren. Die Regierungen müssen demnach den Klimanotstand ausrufen – und die Macht an eine Bürgerversammlung abgeben.
Ihr Hauptquartier hat Extinction Rebellion im vierten Stock eines Geschäftshauses im Zentrum Londons. Die Rebellen, das sind erprobte Aktivisten, freundliche junge Leute, besorgte Grosseltern und ein paar Wirrköpfe. Bei meinem Besuch arbeiteten sie gerade daran, «London lahmzulegen». Zwei Wochen später errichteten Tausende Demonstranten Strassensperren am Piccadilly Circus, am Parliament Square, an der Waterloo Bridge und trugen Skelette vor sich her. Mehr als tausend Personen wurden festgenommen.
Das ist durchaus Teil des Kalküls: Jede Festnahme multipliziert die Botschaft in Bekanntenkreisen und Familien. Die Strategie von XR, so das Kürzel von Extinction Rebellion, ist die «direkte Aktion», gewaltfreier ziviler Widerstand. Die Rebellen blockieren Strassen, fixieren ihre Hände mit Sekundenkleber an Eingängen öffentlicher Gebäude. «Mit jeder Aktion werden wir radikaler», erklärte man mir, «bis der Staat einknickt.» Das klingt nach Greenpeace-Aktionen aus den 1980ern. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied: Während man bei Greenpeace immer den Grundoptimismus spürte, dass das Übel noch abgewendet werden kann, verströmt Extinction Rebellion Untergangsstimmung.
Die Zukunftsvision von Extinction Rebellion beschreibt ein Thesenpapier namens «Deep Adaptation», publiziert im Juli 2018 von Jem Bendell, Professor an der University of Cumbria. Bendell schreibt, auf Basis der ihm zur Verfügung stehenden Informationen gehe er davon aus, dass unserer Zivilisation der «unausweichliche Kollaps», der Welt eine «wahrscheinliche Katastrophe» und der Menschheit ein «mögliches Aussterben» bevorstehe. Das Szenario beschreibt er so: «Fällt der Strom aus, wird bald das Trinkwasser knapp werden. Die Menschen werden hungern. Sie werden nicht wissen, ob sie bleiben oder flüchten sollen. Sie werden fürchten, umgebracht zu werden oder zu verhungern.» Bendells Thesenpapier, das auf einem Mix aus wissenschaftlichen Studien und Artikeln, teils aus umstrittenen Quellen, beruht, wurde hunderttausendfach heruntergeladen.
«Wir sind auf der Titanic, und sie hat den Eisberg gerammt. Wir können springen und ertrinken oder mit dem Schiff untergehen.» Roy Scranton, Philosoph
Eine zweite wichtige Figur der offiziell nicht hierarchisierten Bewegung ist der ehemalige Grünenpolitiker Rupert Read – jener Mann, dem einst mein IT-Kollege Benjamin Green bei der Parteiarbeit half. Rupert Read ist ein Sprecher von Extinction Rebellion. Ein Philosophieprofessor und Nietzsche-Spezialist, der als Politiker eine gewisse Bekanntheit erlangt hat.
Es war nicht einfach, ihn zu kontaktieren. Sein E-Mail-Autoreply verkündete, er sei wegen Burn-outs nicht erreichbar. Irgendwann kam es doch zum Telefonat. Read erwartet eine Zukunft, so erklärte er mir, «gegen die der Horror des Zweiten Weltkriegs mickrig wirken könnte». Er spricht von einem möglichen «mehrfachen Massensterben». Prognosen könne er nicht treffen, persönlich denke er aber, dass die Massensterben in den Entwicklungsländern in den nächsten zehn bis zwölf Jahren einsetzen und die entwickelte Welt «in etwa fünfundzwanzig Jahren Hungersnöten und Konflikten» ausgesetzt sein werde. Für sich und seine Partnerin hat Read schusssichere Westen gekauft. Kinder hat er bewusst keine.
Je tiefer man in das Denken von Extinction Rebellion eintaucht, desto deutlicher wird, dass es eine Endzeitbewegung ist. Auf Rupert Reads Twitter findet sich ein Link zu einer Diskussionsrunde, in der Klimaaktivistinnen zusammen mit einer Psychologin versuchen, ihre Ängste zu verarbeiten. Der grosse Zeitdruck, die gigantische Dimension des Vorhabens und die düsteren Vorhersagen von Extinction Rebellion scheinen auch den Mitgliedern Schwierigkeiten zu bereiten. Es gibt Gruppenmeditationen zur gemeinsamen Verarbeitung und zum gemeinsamen Trauern um die bedrohte Welt. Psychotherapeuten verwenden bereits den Krankheitsbegriff «climate anxiety» – Klimaangst.
Vielleicht ist diese Bewegung ein extremer Ausdruck davon, wie sehr der Glaube an eine bessere Zukunft ins Wanken geraten ist. Aber wie soll man mit dem Wissen umgehen, wenn man erfährt, dass bald die ganze Welt in Flammen steht?
«Wir sind auf der Titanic, und sie hat den Eisberg gerammt. Wir können springen und ertrinken oder mit dem Schiff untergehen», so beschreibt der US-amerikanische Philosoph Roy Scranton dieses Lebensgefühl. Scranton ist Juniorprofessor für Philosophie an der University of Notre Dame, davor war er im Irak stationiert. Er kennt den Kollaps einer Zivilisation, den fortwährenden Kriegszustand.
Als er in die USA zurückkehrte, in eine vermeintlich friedliche Welt, sah er die Verwüstungen, die der Hurrikan Katrina in seiner Heimat angerichtet hatte. Er sah brennende Öltanks, flüchtende Zivilisten – all das weckte Erinnerungen an den Irak. Er begann, sich mit dem Klimawandel zu beschäftigen, und kam zum Schluss: Die Menschen müssen lernen, mit einer zerstörten, vielleicht tödlichen Umwelt zurechtzukommen – wie er es als Soldat aus dem Irak kennt. «Learning to Die in the Anthropocene» heisst das Buch, das er 2015 veröffentlichte. Als Anthropozän bezeichnen Forscher die gegenwärtige Epoche der Erdgeschichte, in der menschliche Aktionen erstmals den Zustand des Planeten beeinflussen.
«Es ist nicht leicht, mit solch einer Gewissheit zu leben», sagte mir Scranton. «All die Lebensziele, das Hinarbeiten auf einen Job oder ein Haus, geraten ins Wanken. Andererseits macht es auch keinen Sinn, nicht mehr in die Pensionskasse einzuzahlen, da man ja nicht weiss, was wann eintrifft. Unter diesen Umständen wird jede Entscheidung absurd.» So entstehe ein Lebensgefühl, wie man es von Verschwörungstheoretikern kennt: Man löst sich von der Realität der Mehrheit, die noch an alten Gewissheiten festhält.
Warum ist es besser, das Sterben zu lernen, als mich aufs Überleben vorzubereiten?, fragte ich Scranton am Ende unseres Gesprächs.
«Weil es keinen Ausweg gibt. Für niemanden.»
In gewisser Weise kann man das erste Opfer dieser Weltsicht benennen: Am 14. April 2018, genau ein Jahr vor den Demonstrationen von Extinction Rebellion in London, erschreckte ein Selbstmord die New Yorker.
Der Anwalt David Buckel, ein populärer Kämpfer für die Bürgerrechte, übergoss sich in einem Park in Brooklyn mit Benzin und zündete sich an. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: «Mein vorzeitiger Tod durch fossile Brennstoffe spiegelt wider, was wir uns antun.»
Es gibt Menschen, die sich, wenn die Lage aussichtslos scheint, in den Wald zurückziehen, wie Benjamin Green. Es gibt Menschen, die die Waffe gegen sich selber richten, wie der Anwalt in Brooklyn. Und es gibt Menschen, die richten ihre Waffen gegen andere.
Am Morgen des 15. März 2019, nicht weit entfernt von einer Klimademonstration von Extinction Rebellion, stürmte im neuseeländischen Christchurch der 28-jährige Australier Brenton Tarrant eine Moschee, dann eine zweite. Er war bewaffnet mit Maschinengewehren, auf dem Kopf hatte er eine GoPro-Kamera und übertrug live auf Facebook, wie er einundfünfzig betende Menschen ermordete. Das Video verbreitete sich im Internet.
Direkt nach dem Massaker rief mich ein Freund an. Der Attentäter habe ein Manifest geschrieben, ich müsse es unbedingt lesen. Es brauchte Wochen, bis ich mich dazu überwinden konnte. Was soll ein weisser Rassist mit der Umweltbewegung zu tun haben? Als ich das 74-seitige PDF schliesslich öffnete, erschrak ich. Schon auf dem Titelblatt stand das Wort «Environmentalism» – Umweltschutz.
Hatten die Medien nicht vermeldet, Tarrant sei ein psychopathischer Islamhasser? Was konnte so einer mit Umweltschutz zu tun haben?
Der Titel des Manifests lautet «The Great Replacement – Towards a New Society» (Der grosse [Bevölkerungs-]Austausch – Hin zu einer neuen Gesellschaft), in der Seitenmitte prangt ein kreisförmiges Symbol, in dem die acht Kernwerte des Attentäters illustriert sind – der oberste davon lautet «Umweltschutz», danach kommen Punkte wie «Soziale Marktwirtschaft» oder «Schutz von Erbe und Kultur».
Ich begann zu lesen. An über einem Dutzend Stellen verweist Tarrant auf Umweltfragen und den Klimawandel. «Ich bin ein ethnonationalistischer Ökofaschist», schreibt er. «Als ich jung war, war ich Kommunist, später Anarchist, dann Libertärer, bevor ich Ökofaschist wurde.» Er schreibt über die Verdrängung der weissen Rasse. «Warum fokussieren auf Immigration und Geburtsraten, wenn doch Klimawandel so ein grosses Problem ist?» Seine Antwort: «Weil sie ein und dasselbe sind. Die Umwelt wird zerstört durch Überbevölkerung … Töte die Invasoren, töte die Überbevölkerung, und rette so die Umwelt.»
Ist der Massenmörder von Christchurch also ein Ökoterrorist? Gibt es vielleicht sogar eine ideelle Verbindung zu den besorgten Umweltaktivisten, die ich getroffen habe? Ich las weiter. Zu seiner Weltsicht, schreibt Brenton Tarrant, sei er bei einer Frankreichreise gekommen.
Und tatsächlich heisst ein berüchtigtes französisches Pamphlet gegen eine angebliche Verdrängung der weissen Bevölkerung «Le Grande Remplacement». Verfasst hat es 2012 der französische Rechtsintellektuelle Renaud Camus.
Camus’ Buch ist doppelt einflussreich. Weltweit ist es das Standardwerk der «White Genocide»-Bewegung. Deren Anhänger glauben, dass die weisse «Rasse» ausgerottet werden soll. Beim Aufmarsch in Charlottesville etwa wurde Camus zitiert. In Europa wiederum hat sein Buch grossen Einfluss auf die Identitären, eine ethnonationalistische Bewegung. Deren österreichischer Anführer, Martin Sellner, stand mit dem Massenmörder Tarrant direkt in Kontakt. Dieser hatte ihm sogar Geld gespendet.
Renaud Camus, heute 72 Jahre alt, ist kein typischer Nazi. Er ist Landschaftsmaler und lebt auf einer mittelalterlichen Burg in Südfrankreich. 1978 veröffentlichte er ein Buch über seine homosexuellen Abenteuer in Stadtparks – unter dem Pseudonym Duparc. Das Vorwort hatte ein Freund von ihm geschrieben – es war kein Geringerer als Roland Barthes. Als Kurator, Autor und Lektor verkehrte Camus in New York und Rom einst mit Künstlern wie Andy Warhol und Cy Twombly. 2002 gründete er eine Partei. Er nannte sie «In-nocence» – ein mehrdeutiger Begriff, den man aber auch schlicht mit «Unschuld» übersetzen kann.
Ich öffnete das Parteiprogramm. Darin wird die Zerstörung der Landschaft durch zu viele Menschen beklagt. Es geht um Überbevölkerung und Einwanderung. «Die Partei der Unschuld ist eine ökologische Partei», las ich. Hatte einer der weltweit wichtigsten völkischen Vordenker eine Ökopartei gegründet?
Camus’ Pamphlet handelt allerdings primär von Migration, nicht von der Erderwärmung. Um Klarheit zu bekommen, schrieb ich ihm und fragte, welchen Einfluss denn der Klimawandel auf die Weltpolitik haben werde. «Einen gewaltigen!», antwortete er. Der Klimawandel sei «Teil des weltweiten Bevölkerungstausches». Bisher sei er nicht die Hauptursache für Migration gewesen. Künftig aber werde er «wirklich ganze Volksgruppen zwingen, ihr Land zu verlassen».
Hierzulande erlebt man die Rechten als Klimaskeptiker, Greta Thunberg wird lächerlich gemacht, die Erderwärmung heruntergespielt. Tatsächlich aber beschäftigen Camus als den derzeit wichtigsten Vordenker des «White Genocide»vor allem ökologische Fragen. Und auch der Massenmörder Tarrant bezeichnet sich als Grünen. Offensichtlich instrumentalisieren die Rechten die Klimakatastrophe für ihre Propaganda gegen Einwanderer.
Arktos Books, das führende englischsprachige Verlagshaus der neuen Rechtsextremen, organisiert Debatten und Veranstaltungen zu «Environmentalism on the Right». Die Bücher, die man dort zu Umweltthemen verlegt, tragen Titel wie «Convergence of Catastrophes» (Das Zusammentreffen der Katastrophen). Das Cover einer anderen Schrift, «Can Life Prevail?» (Kann sich [menschliches] Leben durchsetzen?), zeigt einen bewaffneten Menschen mit Gasmaske.
Je mehr man liest, desto mehr erscheinen «Klimawandel» und «Antiglobalisierung» nicht als Alleinstellungsmerkmale der Linken, sondern als eine der wenigen Schnittmengen zwischen links und ganz rechts. Besonders deutlich wird das bei Paul Kingsnorth, einem angesehenen Schriftsteller und ehemaligen Umweltaktivisten. 2009 schrieb der Engländer zusammen mit Dougald Hine «Uncivilisation: the Dark Mountain Manifesto». Darin wird die Überzeugung formuliert, dass der Zusammenbruch unserer Zivilisation aufgrund des Klimawandels bevorsteht. Kingsnorth zog aufs Land und wurde Selbstversorger. Letztes Jahr beschrieb er in einem Aufsatz unter dem Titel «Dark Ecology» seine Wahrnehmung der Welt in ihren wohl letzten Zügen.
Er beginnt damit, wie er mit seiner Sense das Heu mäht und über die Schriften von Theodore Kaczynski nachdenkt – das ist der als «Unabomber» bekannt gewordene Mathematikprofessor, der zwischen 1978 und 1995 aus seiner Waldhütte Briefbomben an Forscher und Unternehmer schickte, weil er den technischen Fortschritt aufhalten wollte: Dieser werde letzten Endes die Welt zerstören. In seinem Essay schreibt Kingsnorth, er fürchte, «Kaczynskis Schriften könnten mein Leben verändern».
Während ich den Aufsatz von Paul Kingsnorth las, musste ich an meinen Kollegen Ben Green und sein Aussteigerprojekt in Sachsen denken. Auf Instagram hatte ich seine sporadischen Posts verfolgt. Wie er begann, das Gelände von Müll und Unkraut zu befreien. Es hat geschneit. Nächstes Bild: Endlich ist die grosse Werkzeuglieferung von Hornbach eingetroffen: Rechen, Schaufeln, Säge. Und er hat Maisschösslinge bekommen und Holunderpflänzchen gesammelt. Er postete Bilder mit Reihen von Setzlingen. Und von dem grauen Gebäude im Schnee. Ich schickte Ben den «Dark Ecology»-Essay. Ein paar Tage später schrieb er zurück: «Das bin ich.»
Aber was heisst das? Ist Ben Green ein angehender Terrorist? Kaum. Und was ist mit Paul Kingsnorth? Der ist nach rechts gerutscht. Im Jahr 2017 bekannte er, für den Brexit gestimmt zu haben. Auch bei Trumps Wahlsieg habe er «dieselbe Begeisterung» verspürt. Endlich sei der Bannfluch der voranschreitenden Globalisierung gebrochen worden. Der wahre Grund für seinen eigenen Antiglobalisierungs-Aktivismus, so habe er mittlerweile erkannt, liege darin, dass die Globalisierung eine tiefe Empfindung der Herkunft, eine persönliche Verbindung zum Land «plattwalze». Was Trump gesagt habe, das hätte auch auf jedem Sozialforum oder linksgrünen Treffen gesagt werden können.
Heute sei Nationalismus der wahre Gegenspieler zum Globalismus.
Die linke Grüne habe sich mit ihren ständigen Aktionsplänen zur «Rettung der Welt in vierzig Monaten» zum Helfershelfer einer «wurzellosen Globalisierungslogik» gemacht. «Wie kann nun ein wohlwollender grüner Nationalismus aussehen?», fragt sich Kingsnorth.
«Grüner Nationalismus»? Den Ausdruck kannte ich aus Tarrants Christchurch-Manifest. Dort heisst es: «Grüner Nationalismus ist der einzig wahre Nationalismus.» Und weiter: «Wir wurden aus unserem Boden geboren, und unsere Kultur wurde von demselben Grund geprägt.»
Ich betrachte noch einmal die Titelseite des Manifests: Das Zentrum der kreisrunden Grafik ist die «Schwarze Sonne», ein Rad aus zwölf Blitzen. Ein klarer Verweis auf den Nationalsozialismus. Das mystisch anmutende Logo hatten die Esoteriker um Heinrich Himmler entworfen. Die okkulten Logos veranschaulichen, wie sich der Nationalsozialismus bei den Ideen der frühen Anti-Industrialisierungsbewegung bediente. Ab 1890 entstand in Europa eine Gegenbewegung zur voranschreitenden Industrialisierung, die ein «Zurück zur Natur» forderte. Zu ihren Anhängern zählten auch die Theosophen um Rudolf Steiner oder die Monte-Verità-Siedler im Tessin.
Der Autor Rüdiger Sünner hat aufgearbeitet, wie die Nazis die ursprüngliche Ökobewegung integrierten. So erklären sich nicht nur die Naturschutzparks, sondern auch das seltsam ökologische Nazivokabular: «Blut und Boden», «Volksschädlinge» und «entwurzelte Menschen». Die Nazis bedienten sich bei den damaligen populistischen Bewegungen: Nationalismus, Sozialismus – und Ökologismus.
Zusammen mit dem Network Contagion Research Institute in Princeton und dem Londoner ISD, das Radikalismus im Netz aufspürt, untersuchte ich die Onlinediskussionen zu den mir inzwischen geläufigen Stichwörtern: «Unabomber», «pine tree twitter», «eco-nationalism«, «green nationalism», «overpopulation», «collapse», «ecofascism» oder «pentti linkola» (Linkola, ein 86-jähriger Finne, gilt als der Übervater der Ökofaschisten, er befürwortet jegliche Art von Anschlägen, weil diese die Erdbevölkerung dezimieren).
Meine Frage an die Forscher: Gibt es weltweit eine steigende Zahl rechtsradikaler Grüner? Die Auswertung belegte die Existenz einer wachsenden Bewegung, doch deren Umfang sei nach wie vor klein. Eine Randbewegung, vielleicht ein paar Hundert Accounts, via Social Media weltweit vernetzt. Meine Folgefrage konnten die Forscher nicht beantworten: Ist diese Bewegung gefährlich?
Während meiner Recherche stiess ich irgendwann auf den Norweger Varg Vikernes – und über ihn kam ich zu Waffenarsenalen in der Schweiz. Vikernes ist der ehemalige Black-Metal-Musiker, der seinen Bandkollegen Euronymous mit zahlreichen Messerstichen ermordete und heute, nach Verbüssen einer fünfzehnjährigen Gefängnisstrafe, einen Youtube-Kanal unterhält, auf dem er Tipps zum ökologischen Leben gibt und gegen Einwanderer hetzt.
Der bekennende Nazi Vikernes lebt auf einer Permakulturfarm in Frankreich, Fotos im Internet zeigen ein Steinhaus mitten im Grünen, davor Autos in Tarnbemalung. Im Jahr 2013 wurde er festgenommen, weil er Waffen gehortet hatte. Die Behörden, die von seiner Prominenz in Neonazi-Kreisen wussten und seine antisemitischen Pamphlete im Netz gelesen hatten, glaubten, er plane ein Attentat. Sogar der Innenminister schaltete sich ein. Man fand aber keine Attentatspläne. Man fand einen Ökoapokalyptiker – Varg Vikernes und seine Frau Marie Cachet entpuppten sich als Endzeitler, die legal Waffen erworben hatten für die «Zeit des Zusammenbruchs». Auch sie bereiten sich also auf eine Klimakatastrophe vor. Allerdings in Form einer Eiszeit. In einem von Vikernes’ Videos fand ich einen Schweizer: Piero San Giorgio, der sich in mehreren Interviews mit Vikernes über Krieg und das Ende der Welt unterhielt.
«Eigentlich komme ich aus der grünen Ecke», sagte San Giorgio, ein grosser, kräftiger Mann mit rasiertem Schädel, als wir durch ein Tal im Westen der Schweiz zu seiner «autonomen Basis» fuhren. Er ist eine herzliche Person, ein Familienmensch. Der Kollaps des Systems sei unabwendbar, sagte er. Er werde sich und seine Familie verteidigen. Seine Basis ist ein alter Hof: Holzfassade, Blumenkästen, Stall, Gewächshaus und eine eigene Wasserquelle. Im Vorratslager Verpflegung für ein Jahr. Den genauen Ort darf ich nicht verraten.
Vor einigen Jahren hat für einen kurzen Moment die ganze Schweiz von Piero San Giorgio gehört. Als bekannt wurde, dass der SVP-Politiker Oskar Freysinger einen Berater angeheuert hatte, der Behinderte als Ballast für die Gesellschaft betrachtete. Das war San Giorgio. Er musste abtreten.
«Grün ist nicht immer links gewesen», erklärte mir San Giorgio in seinem Garten. «Thoreau, der Gründervater der grünen Bewegung, war eher ein Konservativer, sogar ein Reaktionär.» Er selber sei kein Faschist, das wolle er klarstellen. Aber in Krisenzeiten hielten Ethnien zusammen. Die multikulturelle Gesellschaft sei das Hauptrisiko. Deshalb: Schluss mit der Einwanderung. Mehr noch: Remigration.
Im Dachgeschoss hat San Giorgio alias Piero Falotti, wie er mit bürgerlichem Namen heisst, einen Raum eingerichtet, in dem auch er Youtube-Clips dreht. An den Wänden meterlange Bücherreihen. Umberto Eco, George Orwell, «Six Degrees», ein Buch aus dem Jahr 2007 über die Erderwärmung. Die Szenarien vom Zusammenbruch, die Extinction Rebellion heute verbreitet, kannte er bereits vor zehn Jahren. Früher hätte er sich vielleicht dem Protest angeschlossen. «Ich habe gegen den Irak-Krieg demonstriert», sagt er. Heute liegen die «Turner-Tagebücher» auf seinem Tisch, ein Kultwerk der «White Supremacy»-Bewegung, das auch Anders Behring Breivik gelesen hatte. Es beschreibt, wie eine Handvoll weisser Rebellen beginnt, alle anderen Rassen auszulöschen.
Auch das Christchurch-Attentat hat Piero San Giorgio in einem Video besprochen. Man müsse die Muslime zurückführen, um sie zu schützen, behauptet er darin. Ich zeigte ihm das Cover des Manifestes. «Sind das nicht genau Ihre Werte?», fragte ich. Er runzelte die Stirn. «Eigentlich schon.» Von Brenton Tarrants Taten distanzierte er sich jedoch.
In einem der Videos zeigt Piero San Giorgio das Waffenarsenal, das er auf seinem Hof hortet. Dutzende Maschinengewehre und Handfeuerwaffen, alle geladen. In einem anderen Video steht er mit Varg Vikernes in der Nähe eines Waldstücks, im Hintergrund schreit eines von Vikernes’ sieben Kindern.
Als die beiden über den kommenden Kollaps der Zivilisation sprechen, fragt Vikernes: «Ist dieses Problem nicht in Wahrheit die Lösung?»
San Giorgio grinst: «Es ist eine Katastrophe. Aber nicht, wenn man denkt, natürliche Selektion ist gut. Die natürliche Selektion wird uns zu besseren Menschen machen, stärker und intelligenter.»
Ich hatte meine Reise zu den extremen Rändern der Endzeitler angetreten, um herauszufinden, ob mein früherer Arbeitskollege Benjamin Green, der auf einem stillgelegten Militärgelände auf das Ende der Welt wartet, den Verstand verloren hat. Oder ob ich verrückt bin, weil ich immer noch so tue, als könnte der Klimawandel mit ein bisschen Mülltrennen, Kinder-Demonstrationen und persönlichem Flugverbot abgewendet werden.
Ich habe Leute mit völlig verschiedenen politischen Ansichten getroffen, die sich in ihren beklemmenden Analysen ähnlich sind, sich aber in den Schlüssen, die sie daraus ziehen, radikal unterscheiden. Während die Extinction Rebellion mit ihren Aktionen die Regierungen zum Handeln zwingen will, bereiten sich die völkisch Gesinnten auf einen diffusen «Endkampf» der Ethnien vor. Während die einen in Depression versinken oder sich gar das Leben nehmen, entfalten andere im Angesicht der drohenden Apokalypse ungeahnte Energien, nicht selten zerstörerische.
Andererseits: Steckt in dem Umstand, dass sich die Menschheit des Klimawandels und seiner Folgen bewusst wird, nicht auch eine unvorstellbare Chance? Wenn jeder um seine Rolle im fragilen Ökosystem weiss, jeder seine Verantwortung kennt, zu dessen Erhaltung beizutragen, jeder sieht, was zu tun ist. Es ist nicht unbedingt wahrscheinlich, aber doch immerhin möglich, dass die Menschen angesichts ihrer existenziellen Bedrohung zusammenstehen, vereint im Kampf gegen den von uns selbst geschaffenen Klimawandel. Vielleicht haben wir Glück. Es wäre die Geburt einer gemeinsamen Welt.
Noch einmal besuche ich Benjamin Green. Es ist inzwischen Juni, und endlich scheint auch bei ihm die Sonne. Stolz zeigt er mir sein Feld, das er mithilfe seines Nachbarn gepflügt hat. Dahinter ein riesiges Gewächshaus. Zwölf Tonnen Pferdedung hat er geschenkt bekommen. Die Maisschösslinge sind gesetzt. «Vielleicht ist es hier in ein paar Jahren warm genug, um Wein anzubauen!», sagt Benjamin und strahlt. Alles geht voran. Alles läuft nach Plan. Er weiss, was als Nächstes kommt, und wie seine Zukunft aussieht. Auch wenn es keine gibt.
«Hast du dir Waffen besorgt?», frage ich ihn.
«Nein», sagt Ben. «Wieso sollte ich töten? Ich bin doch Veganer.»