Schwarzer Kapuzenpullover, Hemd, Jeans, unrasiert: Bertrand Perez, der 49-jährige Franzose, der Mann, der gerade die Digitalwährung Libra lanciert, die Politiker und Banker in Rage versetzt, wirkt gelassen. Dabei hat Libra eine ziemliche Achterbahnfahrt hinter sich: Vor zwei Jahren, im Mai 2018, wurde bekannt, dass Facebook an einer Digitalwährung auf Blockchain-Basis arbeite. (Blockchain, kurz zur Erinnerung, ist das technische Prinzip, auf dem Bitcoin beruht, das digitale Zahlmittel, das inzwischen jeder kennt, aber kaum jemand benutzt.) Ein Jahr später, im Juni 2019, verkündete Facebook dann, man werde die Digitalwährung Libra lancieren in einer Allianz mit Visa, Mastercard und Paypal – und zwar von Genf aus.
Doch statt Applaus folgte eine gewaltige Gegenreaktion. Nationalökonomen vermuteten, Facebook könne versuchen, sich zur weltweiten Zentralbank zu machen. Politiker von Frankreich bis Japan warnten, Facebook versuche, die Macht über das Geld zu übernehmen. Facebook-Chef Mark Zuckerberg, wegen der Cambridge-Analytica-Sache in der Dauerkritik, wurde im US-Senat vorgeladen. Die USA schickten eine ihrer besten Geldwäsche-Expertinnen nach Genf, zahlreiche Finanzmarktbehörden, auch die Finma, leiteten Untersuchungen ein. Im Oktober 2019 verliessen die Partner Visa, Mastercard und Paypal den Verein mit Sitz in Genf. Viele begannen das Projekt abzuschreiben, manche fragten sich bereits, ob man vielleicht im Westen chinesische Digitalwährungen nutzen werde.
Und jetzt, am 16. April 2020, zum Höhepunkt der Corona-Krise, reichte – für viele überraschend – eine neu zusammengesetzte Libra-Trägerschaft bei der Schweizer Finanzmarktaufsicht ein komplett überarbeitetes Konzept ein. Neues Mitglied ist beispielsweise Shopify, ein grosser Anbieter von Verkaufssoftware. Weiterhin dabei sind Facebook, Uber und die Silicon-Valley-Risikokapitalgesellschaft Andreessen Horowitz. Dieses Jahr soll die Digitalwährung eingeführt werden.
Das Magazin: Monsieur Perez, als die Facebook-Tochter Calibra ankündigte, eine digitale Weltwährung zu lancieren, gab es heftige Reaktionen. Notenbanken wie Politiker gingen auf die Barrikaden. Was haben Sie mit Libra vor?
Bertrand Perez: Einfach gesagt: Es gibt digitale Netzwerke für alles – ausser für Geld. Im Moment kann man Musik oder Filme leichter verschicken als Geld. Hier kommt Libra ins Spiel. Denn ob Sie ein Video oder Geld senden, ist digital das Gleiche. Einfach ein Datenbankeintrag, den man bewegt. Und zwar mit Lichtgeschwindigkeit. Das ist die Idee: ein zuverlässiges globales Netzwerk für Geldflüsse aufzubauen.
Werden Sie also Digitalgeld erschaffen? Wie Bitcoin?
Libra erschafft kein Geld, Libra digitalisiert vorhandenes Geld. Wir werden zwei Arten von sogenannten Stablecoins anbieten. Erstens eine kleine Anzahl von Stablecoins in einer Währung, zum Beispiel US-Dollar, britische Pfund oder Euro. Zweitens eine eigenständige Libra, aus einer Mischung verschiedener Währungen für internationale Überweisungen und für Währungszonen, die noch keine eigene Libra haben.
Wie digitalisiert man Geld?
Nehmen wir etwa den Libra-Euro. Sie sind also ein europäischer Bürger und haben einen 10-Euro-Schein, den Sie in den Libra-Euro umtauschen möchten. Im Grunde tauschen Sie also Ihre Papierscheine gegen eine digitale Version, der Wert bleibt derselbe. Wir schaffen keinen neuen 10-Euro-Schein. Es ist genau dieser Schein, den wir bei uns in die Reserve stellen. Und im Austausch geben wir Ihnen einfach zehn Libra-Münzen. Der Wert bleibt derselbe. Es ist keine Geldschöpfung.
Wird es digitale Schweizer Franken geben?
Eines Tages vielleicht. Wir werden im Laufe dieses Jahres wohl mit fünf der grössten Währungen beginnen. Zum Beispiel US-Dollar und Euro. Der Rest folgt später.
Wie sehen Libra eigentlich aus?
Sie müssen eine App herunterladen. Aber nicht von der Libra Association, sondern von Firmen, die sogenannte Wallets, also Geldbeutel, für Libra entwickelt haben. Sie suchen sich einen im App Store aus, dann sagen Sie: «Ich will zehn Libra kaufen.» Wenn Ihre Kreditkartendaten hinterlegt sind, haben Sie zehn Libra.
Aber wozu brauche ich das?
Weil wir günstiger sein werden als alle anderen. Eines der Ziele von Libra ist es, die Kosten und Verzögerungen bei grenzüberschreitenden Zahlungen und Überweisungen zu reduzieren. Heute werden diese Kosten auf rund 7 Prozent einer Transaktion geschätzt, weit höher als das 3-Prozent-Ziel, das die Weltbank formuliert.
Angenommen, ich habe Pfund, will aber Dollar – kann ich kostenlos wechseln zwischen Libra-Währungen?
Libra wird nicht kostenlos sein, aber solche Kosten werden erheblich sinken.
Noch mal zur Ausgangsfrage: Wenn die Libra Association Geld herausgibt – eine eigene Währung –, ist sie doch eine globale digitale Zentralbank im Besitz von Facebook, oder?
Libra ist weder eine Zentralbank noch eine Kryptowährung. Wir sind ein Konsortium aus Unternehmen und Stiftungen, die Libra schaffen. Libra ist ein Zahlungssystem, das auf der Blockchain-Technologie und einer unabhängigen Vermögensreserve basiert.
Sie sind also eher wie Venmo, Twint und Paypal, haben aber zwei Milliarden potenzielle Kunden?
Genau! Libra ist ein Zahlungssystem. Die meisten dieser Systeme stützen sich jedoch auf das traditionelle Finanzsystem und übernehmen damit dessen Einschränkungen und Verzögerungen. Libra soll ein einfaches, zugängliches und vernetztes globales Zahlungssystem werden, basierend auf einer eigenen Blockchain-Finanzinfrastruktur, damit Zahlungen so leicht werden wie das Schicken einer Textnachricht.
Kann ich Libra in richtiges Geld umtauschen?
Wenn Sie Geld nach Australien schicken, kann der Empfänger die Libra in australische Dollar tauschen.
Wichtiger in meinem Alltag sind sicher die kleinen Zahlungen, beim Bäcker zum Beispiel.
Wir erwarten nicht, dass Sie Ihren Espresso mit Libra bezahlen. Wir glauben, es wird mit Überweisungen beginnen. Innerhalb Ihres Landes oder grenzüberschreitend. Und mit Internetzahlungen. Wenn Sie also in einem Onlineshop zahlen, dann zahlen Sie mit Libra, weil das schneller und sicherer ist.
Im Stile von: Ich bin auf Instagram und sehe dieses schöne Paar Schuhe …
… oder Sie hören auf Spotify eine Konzertaufnahme und kaufen den Song, indem Sie einfach draufklicken.
Es wird also bald in meinen Social-Media-Netzwerken Geldtransfers geben?
Nicht nur auf Facebook, auf vielen anderen Diensten. Wir haben zum Beispiel gerade einen Vertrag mit Shopify abgeschlossen.
Wird Libra dann so ein Social-Media-Button, der überall zu finden ist? Wie Likes? Oder wie das Paypal-Symbol?
Das weiss ich noch nicht. Wir gehen davon aus, dass die meisten Benutzer Libra-Münzen über Handelsplätze oder über die Geldbeutel-Apps kaufen werden.
«Es entsteht gerade das Internet des Geldes. Und Libra ist ein Teil davon.»
Ist es übrigens ironisch gemeint, dass Sie ein Paypal-Sweatshirt tragen?
Oh nein, ich habe zehn Jahre lang für Paypal gearbeitet. Ich kenne die sehr gut. Es ist einfach der Sweater, den ich vor zehn Minuten genommen habe.
Fraglich, ob Sie Freunde bleiben! Wenn Libra Überweisungen billiger anbieten will, nehmen Sie doch Twint und Paypal das Geld weg. Sie haben sich ja bei der Schweizer Regulierungsbehörde auch in derselben Kategorie beworben: als Zahlungssystem. Ist das der Grund, weshalb Visa und Paypal aus der Libra-Allianz ausgestiegen sind? Oder lag das am Druck der US-Regierung?
Diese seriösen Unternehmen haben aus verschiedenen Gründen beschlossen, sich nicht am Libra-Projekt zu beteiligen. Wir können nicht für sie sprechen.
In China gibt es auf der WeChat-App digitales Geld, das dort schon seit Jahren fast jeder nutzt. Jetzt kommt es in den Westen. Wird Digitalgeld eine weltweite Sache?
Sie verstehen das vollkommen richtig. Gerade entsteht das Internet des Geldes. Libra ist Teil davon.
Andererseits sind viele Zentralbanken kurz davor, eigene digitale Währungen auszugeben. Könnten Sie erklären, inwiefern sich Libra davon unterscheidet?
Wir könnten dafür das Zahlungsnetzwerk sein. Unsere Hoffnung ist, dass die Zentralbanken digitales Zentralbankgeld entwickeln und diese Münzen direkt in das Libra-Netzwerk integriert werden können. Unsere Mission ist es, ein vernetztes globales Zahlungssystem und eine Finanzinfrastruktur zu schaffen, für Milliarden von Menschen. Die Vision war immer, dass das Libra-Netzwerk die Funktionalität von bestehenden Fiatwährungen ergänzt und erweitert – statt sie zu konkurrenzieren.
Die Zentralbanken bauen die Züge, Libra gehören die Gleise. Andere Frage: Ein wichtiger Vorteil von Bargeld ist Anonymität. Kann Libra Anonymität?
Ja, innerhalb der Sicherheitsbeschränkungen des Systems. Jeder Libra-Nutzer wird im System mit bestimmten Details referenziert, die Transaktionen ermöglichen. Aber diese Details werden nie mit Informationen verbunden sein, die auf die Nutzeridentität hinweisen.
Bitcoin bekomme ich anonym. Aber um Libra zu erhalten, muss ich mich mit meinem Pass registrieren, oder?
Gute Frage. Sie müssen eine App als Brieftasche runterladen. Diese App muss lokalen Gesetzen entsprechen. Und natürlich den KYC-Regeln …
… KYC, Know Your Customer, Kenne deinen Kunden – ein Standard aus der Finanzindustrie, der sicherstellen soll, dass Finanzanbieter ihre Kunden identifizieren können …
… Sie müssen Ihren Namen, Ihre Adresse, Ihre ID vorzeigen.
Aha! Wenn ich Libra in sozialen Netzwerken nutze, fliessen dann diese Daten auch an die Netzwerkbetreiber? Können soziale Netzwerke wie Facebook damit also ihre Nutzer eindeutig identifizieren? Das wünschen sie sich ja schon lange.
Die Daten, die Sie der Geldbeutel-App zur Verfügung stellen, bleiben im Geldbeutel. Die App wird Ihre Passdaten nicht weitergeben.
Aber die Mitglieder der Libra Association, die bekommen doch die Daten über das, was im Netzwerk passiert, oder?
Alles ist öffentlich. Weil Libra mittels einer öffentlichen Blockchain betrieben wird, werden alle Geldflüsse öffentlich sein. Sie selber werden mit Ihrem Laptop alle Transaktionen einsehen können.
Ich soll jede Libra-Zahlung veröffentlichen? Welche Medikamente ich einkaufe? Das ist beängstigend!
Wir respektieren Ihre Privatsphäre und den Datenschutz. Was werden wir also speichern? Wenn Sie eine Brieftasche erstellen, werden Sie eine «Adresse» haben, die aus einer langen Reihe von Buchstaben und Ziffern besteht, und wenn Sie Geld schicken, werden Sie Libra an eine solche Adresse schicken. Was in der Libra-Blockkette sichtbar sein wird, sind die Quelladresse, die Zieladresse und der Zeitstempel. Diese Adressen sind nicht mit für Menschen lesbaren Informationen verknüpft, und innerhalb der Libra-Blockchain werden wir niemals Daten speichern, die sich auf die Kunden beziehen, wie E-Mail-Adresse oder Name.
Also es kostet etwas, ist nicht wirklich anonym, man muss sich anmelden, und ich habe ja bereits Kreditkarte, Paypal, E-Banking und Twint. Wer braucht eigentlich Libra?
Ich würde sagen: jeder. Für uns hier in der Schweiz wird der Vorteil von Libra sein, dass wir Geld sicher und günstig senden und empfangen können. Aber in vielen Teilen der Welt haben die Menschen weder eine Kreditkarte noch ein Bankkonto. Dank Libra aber können sie, sobald sie ein Smartphone haben, Zahlungen vornehmen. Eines der Hauptziele ist die Förderung der finanziellen Eingliederung. Alles, was man braucht, um Geld bei sich tragen zu können, ist ein Mobiltelefon.
Vorhin sagten Sie, man brauche eine Kreditkarte, um Libra zu kaufen. Wie unabhängig sind Sie vom bestehenden Bankensystem?
Ja, am Anfang werden Kreditkarten ein Weg sein, um an Libra-Münzen zu kommen. Auf lange Sicht könnten andere Optionen zur Verfügung stehen.
Aber ein westafrikanischer Strassenhändler in, sagen wir, Abidjan, könnte Libra wirklich nutzen?
Natürlich können die Strassenhändler Libra verwenden. Sofern sie ein Telefon haben, geht das. Kunden können von Telefon zu Telefon bezahlen.
Strassenverkauf ist meist inoffizielle Arbeit. Unversteuert.
Das ist ein anderes Thema. Das ist eine Regierungsangelegenheit. Ich bin Ihrer Meinung: Wenn Sie Schwarzgeld verdienen, warum sollten Sie zu Libra wechseln?
Die Markteinführung in Entwicklungsländern könnte kompliziert werden.
Libra wird Menschen helfen, die ein Unternehmen gründen wollen, aber sich kein Bankkonto leisten können.
Ich verstehe immer noch nicht: Wie soll mein Strassenhändler in Abidjan an Libra kommen? Wie soll er die App herunterladen, wenn er vielleicht keine ID hat? Wie soll er Geld raufladen ohne Kreditkarte? In physischen Wechselstuben?
Auf lange Sicht sind viele Optionen möglich.
Am Paradeplatz witzeln manche, dass Libra – ein Verein, der vorgibt, eine globale Finanzinfrastruktur aufbauen zu wollen – nicht mal ein eigenes Büro hat. Lediglich ein paar Stühle in einem Coworking Space in Genf.
Wir stellen gerade Leute in Genf und Kalifornien ein.
Warum haben Sie sich in der Schweiz angesiedelt?
Erstens ist die Schweiz eines der wenigen Länder, die begonnen haben, einen rechtlichen Rahmen für Krypto-Vermögenswerte zu definieren. Das ist der Finma zu verdanken. Zweitens ist Genf die Hauptstadt für internationale Organisationen. Denen wollten wir nahe sein, wegen unseres Ziels der finanziellen Inklusion. Wir arbeiten hart daran, grosse NGOs miteinzubeziehen.
Sie lancieren mitten in der Corona-Krise, wo niemand mehr Geld anfassen will, ihre Digitalwährung doch noch. Gutes Timing?
Nein. Es ist in Wahrheit reiner Zufall. Es ist traurig, was passiert, Menschen sterben. Aber wir wollten die Lancierung nicht absagen.
Einerseits scheint es ein günstiger Moment der Digitalisierung, andererseits steht die vielleicht grösste Wirtschaftskrise seit 1929 bevor. Es könnten Inflation, Deflation oder sogar die Auflösung des Euro folgen. Wird es da für mich sinnvoll oder riskant, Libra-Münzen zu haben?
Das ist eine grosse Frage. Der Wert wird bei den Geschäftsbanken verbleiben, wenn Sie also den Banken nicht vertrauen … Wir sind nicht da, um die Banken zu eliminieren. Die Banken sind Partner. Wir brauchen sie. Wir brauchen einen Teil des bestehenden Systems, um Libra zu erhalten. Wenn Sie also den Banken nicht trauen, warum sollten Sie dann Libra trauen?
Sie verwenden aber das Wort «Stablecoin». Bedeutet das, dass die Libra stabiler ist als andere Währungen?
Stablecoins werden durch bestehende Fiatwährungen gedeckt. Der Libra-Dollar etwa mit Dollareinlagen.
Und wenn diese Währungen schwanken?
Wird Libra alle Vorteile und Probleme haben, die mit diesen Schwankungen verbunden sind.