July 10, 2020

(Er-)Lösung dank Technik?

Ich habe die Corona-App Entwicklung von Beginn an verfolgt. Es war das grosse Hoffunungsprojekt der digitalen Welt. Ein Test für Ihre Fähigkeiten. Hier mein Fazit:

Wer Bilder aus der Zeit der Spanischen Grippe betrachtet und die damaligen Empfehlungen von Ärzten und Behörden durchliest, stellt fest: Maske tragen, Hände waschen, Quarantäne und geschlossene Grenzen, Demos von Virusleugnern – es war alles schon da. Was heute anders ist als vor hundert Jahren, was unsere Situation von 1918 unterscheidet, ist die Digitalisierung. Jetzt, nach der ersten Welle, müssen wir uns fragen: Welchen Fortschritt haben wir seither erzielt? Und kann er uns helfen, die Pandemie zu besiegen?

Seit Monaten wird weltweit an einem wirksamen Medikament gegen Corona geforscht, ebenso an einer Impfung. Aber beides braucht Zeit, und gerade als es aussah, als wären wir verloren, Mitte März, tauchte ein anderer Lösungsansatz auf: der Tech-Fix. Die digitale Lösung für ein globales Problem, die verhindern könnte, dass Menschen auf der ganzen Welt sich monatelang zu Hause einschliessen müssen, dass die Weltwirtschaft kollabiert und es sehr viele Tote gibt wegen eines winzigen Gegners.

Die Idee: Schneller sein als das heimtückische, oft asymptomatische Virus, indem positiv Getestete ihre Nahkontakte dazu bringen, sich testen zu lassen und sich zu isolieren. Dies mithilfe einer Applikation, die möglichst viele Menschen auf ihrem Handy installieren und die ermittelt, wer einer infizierten Person so nah gekommen ist, dass er sich angesteckt haben kann. Alle anderen könnten so aus dem Lockdown. Geplant war die Einführung dieser europaweiten, länderübergreifenden App für Mitte April.

Es hat dann länger gedauert, und am Ende waren es verschiedene nationale Lösungen: In der Schweiz kann man seit zwei Wochen die «SwissCovid App» herunterladen, in Italien «Immuni», in Deutschland die «Corona-Warn-App», nahezu baugleiche Modelle, in anderen europäischen Ländern gibt es weitere Corona-Apps.

Ich war seit Mitte März im Austausch mit einem Dutzend der über hundert Beteiligten – Forscherinnen, Forscher, hochrangige Politiker. Das sind die vier wichtigsten Erkenntnisse:

– 1 – Die Ohnmacht der Allmacht

Die grossen Techunternehmen Google, Apple, Facebook und Amazon werden manchmal als Überwachungskapitalisten bezeichnet, weil sie ihr Geld damit verdienen, Daten zu sammeln, um das menschliche Verhalten bis ins Detail auszuwerten. Dennoch wurden sie von der Pandemie überrumpelt.

Das ist umso verwunderlicher, als ihre Instrumente seit jeher darauf ausgerichtet sind, das Prinzip der Viralität zu erkennen. Viralität bezogen auf Informationen zwar, nicht auf Krankheitserreger, aber das Prinzip ist das gleiche. Von Youtube über Twitter zu Instagram arbeiten Tausende an der Erforschung «viraler Prozesse». Warum Videos «viral» gehen, Memes endemisch werden, wie man sich vor Computerviren schützt. 2008 hatte Google sogar «Flu Trends» vorgestellt, einen Tracker, der mittels Analyse von Suchwörtern lokale Ausbrüche einer Grippewelle vorhersagte. Das Projekt wurde allerdings 2015 eingestellt.

Zu Beginn schien das Virus ein simples Problem im Vergleich zu dem, was wir der Technologie zutrauen: dass bald denkende Wesen, sogenannte allgemeine künstliche Intelligenzen, irgendeinem Labor entsteigen. Von Oxford bis Hollywood sorgt man sich, dass diese superintelligenten künstlichen Wesen die Menschheit auslöschen könnten. Zugleich investiert Peter Thiel in die Erforschung der Unsterblichkeit. Elon Musks Plan, den Mars zu besiedeln, wirkt in diesem Kontext wie ein bodenständiges Hobby. Das zeigt vor allem eins: wie abgehoben unsere Erwartungen an die Technologie sind.

Konzerne wie Amazon und Facebook werden vergöttert; nicht wenige denken, im Silicon Valley würden Leute mit nahezu übermenschlichen Fähigkeiten wirken, die früher oder später alles hinkriegen. Daraus nährt sich der Glaube, jedes soziale, medizinische oder sonstige Problem lasse sich mithilfe von Technologie lösen. Dieser Glaube heisst Solutionismus.

Der Ehrgeiz, die globale Covid-19-Pandemie mit einer App zu besiegen, ist Solutionismus in Reinform. Aufwind gab dieser Idee ein von der Universität Oxford am 16. April veröffentlichtes Modell zur Simulation der «ef-fektiven Konfiguration der digitalen Kontaktnachverfolgung»: Das Virus könne allein mit einer App in Schach gehalten werden, so das Ergebnis, vorausgesetzt, sechzig Prozent der Smartphone-Nutzer verwenden die App und begeben sich in Isolation, sobald sie von ihr dazu aufgefordert werden.

Die Arbeit der Oxford-Forscher erhielt viel Aufmerksamkeit in Tech-Kreisen. Aber es handelt sich um eine theoretische Modellierung, die die Wirksamkeit der App überschätzte. Mittlerweile haben sich die Erwartungen jedenfalls stark relativiert. Auch im Zeitalter des Solutionismus gibt es nicht für alles einen quick fix.

– 2 – Willkommen im Tech-Feudalismus

Bereits am 6. März formulierte der deutsche Elektrotechniker Thomas Wiegand, Professor an der Technischen Universität Berlin, die Prinzipien, auf denen die heute anwendbaren Corona-Apps basieren: Bluetooth-basierte Nahkontaktverfolgung mit wechselnden Bitfolgen, dezentrale Speicherung der Kontakthistorien, strenger Datenschutz, europaweite Anwendbarkeit. Weder Apple noch Google haben dieses Konzept erfunden. Wiegand kooperierte unter anderen mit Marcel Salathé, Schweizer Epidemiologe an der EPFL in Lausanne; über Salathé wurde daraus ein eigenes EPFL-Forschungsprojekt, parallel wurde an weiteren europäischen Universitäten geforscht.

Die Forscherinnen und Forscher wussten von Beginn an, dass die geplante App eine kleine Freischaltung in den Betriebssystemen der Mobiltelefone benötigte, um eine bestimmte Bluetooth-Funktion zu erlauben, auch bei gesperrtem Smartphone-Bildschirm. Dafür waren sie auf Apple und Google angewiesen: Die Konzerne kontrollieren mittels ihrer Betriebssysteme 99,3 Prozent der Mobiltelefone weltweit. Betriebssysteme sind ein Paket aus Programmen, die der Hardware – den Chips und Speichern eines Telefons – vorschreiben, was sie zu tun hat.

Für die beiden Techfirmen sind die Betriebssysteme ihr vielleicht wertvollster Besitz. Bei Apple ist das Betriebssystem Firmengeheimnis. Und Google hat sich durch die geschickte Kombination von Lizenzrechten trotz eines weitgehend offenen Quellcodes die Kontrolle über entscheidende Funktionen bewahrt. Das wichtigste Kontrollinstrument beider Unternehmen ist auch das profitabelste: die App Stores. Dort und nur dort kann man die Programme kaufen, die auf das Betriebssystem gespielt werden können. Und was dort angeboten wird, bestimmen Apple und Google.

Die Verhandlungen zwischen den europäischen Entwicklern und den US-amerikanischen Techkonzernen über die Freischaltung und die anschliessende Zulassung der App, also die Aufnahme der App in die App Stores, offenbarten die enorme Macht der Techunternehmen, die inzwischen jene grosser Nationalstaaten übersteigt: Ohne die Zustimmung von Google und Apple gibt es keine App.

Am 18. März nahm Edouard Bugnion, ein früherer Cloudsoftware-Unternehmer und im Silicon Valley gut vernetzter EPFL-Professor, Kontakt zu den Ansprechpartnern bei Apple und Google auf, um darüber zu verhandeln, dass sie der Freischaltung zustimmen und ihr Betriebssystem anpassen. Weil es in den darauffolgenden zähen Verhandlungen um den Kernbereich der Techfirmen ging, mussten die Forscher um Bugnion zahlreiche Geheimhaltungsverträge, sogenannte NDAs, unterzeichnen.

Der französische Digitalminister Cédric O versuchte mit einem anders gearteten App-Modell eine Bluetooth-Freischaltung von Google und Apple zu bekommen, erhielt jedoch eine Absage. Auch die von der englischen Gesundheitsbehörde NHS entwickelte App erhielt keine Freischaltung, ebenso scheiterte Singapur mit seiner App.

Noch in der Planungsphase tat sich ein Graben zwischen den App-Entwicklern auf: auf der einen Seite die Vertreter einer zentralisierten Lösung, auf der anderen jene einer dezentralen Lösung. Bei der zentralisierten Lösung findet das Matching der infizierten Person und ihrer Nahkontakte auf einem Server statt, beim dezentralen System auf den Mobiltelefonen.

Während die deutschen Initiatoren auf das zentralisierte Modell setzten, das Staaten weitergehende Zugriffsrechte auf Daten ermöglicht, auch mit der Absicht, diese Daten epidemiologisch auswerten zu können, um die Krankheitsentwicklung zu verstehen, entwickelte die Privacy-Spezialistin Carmela Troncoso, Assistenzprofessorin an der EPFL, das dezentrale Modell, das Regierungen keinen Einblick in die Daten erlaubt.

Troncosos Modell, das DP3T-Protokoll, gefiel den Techunternehmen besser. Denn das Geschäftsmodell von Apple besteht darin, seine Apple-Produkte teuer zu verkaufen und die Daten der Kundinnen und Kunden, an die man so gelangt, vor dem Zugriff anderer Firmen zu schützen. Apple selber wertet diese Daten aber häufig aus, wie das Beispiel der abgehörten Siri-Aufnahmen zeigt. Am 10. April verkündeten die CEOs beider Techgiganten via Twitter, dass sie pro Land nur eine Corona-App unterstützen, und zwar das dezentrale Modell. Die Techunternehmen diktierten den Staaten somit die Bedingungen.

– 3 – Zentral, dezentral – gar nicht egal

Die Dezentralisten von der Schweizer EPFL und die Zentralisten, also die Forscher um den Berliner Thomas Wiegand, stritten einige Wochen lang darüber, welches Modell das bessere sei. Dieser Streit wurde auch öffentlich im Netz ausgetragen, sodass sich viele einmischten. Die Vertreter des dezentralen Systems argumentieren, das Sammeln von Daten auf einem Server ermögliche die Bildung eines Social Graph: ein Abbild aller menschlichen Interaktionen und Beziehungen, eine Landkarte, wer wann mit wem wo wie viel Zeit verbringt.

Der Social Graph ist sozusagen der heilige Gral des Überwachungskapitalismus – viele Unternehmen versuchen ihn für ihre Nutzer zu bilden, aber niemand hat bisher umfassende, verknüpfbare Daten, um die Bevölkerung eines ganzen Landes oder gar mehrerer Länder zu erfassen.

Machthungrige Politiker könnten sich diese Informationen sichern. Weil die App zudem über die Grenzen von Betriebssystemen hinweg solche Graphen bilden und mit Gesundheitsdaten verbinden würde, birgt sie gemäss Kritikern eine Gefahr, die grösser sein könnte als der Nutzen der App. Die wichtigsten Vorkämpfer eines strengen Datenschutzes, die EPFL-Forscherin Carmela Troncoso und der britische Privacy-Aktivist Michael Veale, erklärten jedenfalls gegenüber dem «Magazin», dass ihnen die Verteidigung der Privacy sogar wichtiger sei als der medizinische Nutzen, den die App bringen könne.

Die Befürworter der zentralisierten Lösung hingegen hofften, aus Benachrichtigungsstatistiken Erkenntnisse über die Krankheitsverbreitung zu gewinnen und das System verbessern zu können. Zudem fürchteten sie, ohne einen staatlichen Server könnten Google und Apple Macht über das Gesundheitssystem erlangen. Weil an den App-Verhandlungen Mitglieder der Gesundheitssparte von Apple und Google beteiligt waren, die wiederum mit Krankenversicherern kooperieren, könnten die Unternehmen die App-Daten nutzen, um Erkrankte von Versicherungen auszuschliessen.

Die Fraktion der Zentralisten hatte bereits eine länderübergreifende Koalition von Deutschland über Frankreich bis Italien für ihr Modell gebildet, doch die Privacy-Fraktion verbündete sich mit den Techgiganten. Gleichzeitig stiegen in der Bevölkerung ganz grundsätzlich die Vorbehalte gegenüber der App. Das Projekt drohte seine Mehrheitsfähigkeit zu verlieren – auch wegen des immer lauter werdenden Streits der beiden Lager auf Twitter und in den Medien.

Am 25. April beschlossen der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn und der Chef des Bundeskanzleramts, Helge Braun, in einem abendlichen Call, von der bereits angekündigten zentralen Lösung abzusehen, wie Braun dem «Magazin» sagte. Dabei habe man die «gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber der epidemiologischen Auswertbarkeit priorisiert». Nun plane das Robert Koch-Institut, der Anbieter der deutschen «Corona-Warn-App», eine Erweiterung der App, sagt Braun. Dabei sollen die Nutzer freiwillig die Option aktivieren können, mehr Daten für Forschungszwecke zu teilen. Dies setze jedoch erneut eine Unterstützung durch Apple und Google voraus.

Der Streit um die App hat auch kulturelle Unterschiede offengelegt. Das dezentrale Modell wurde als Schweizer Modell bekannt, während sich Frankreich, im Einklang mit seiner Tradition, für die zentralisierte Variante entschied. Da nach der Abkehr Deutschlands und Italiens vom zentralisierten Modell ein Staat nach dem anderen umschwenkte, Frankreich und Grossbritannien aber auf ihrer Souveränität gegenüber den Techunternehmen beharrten, platzte der Traum einer europaweit kompatiblen App.

Damit die verschiedenen Corona-Apps im Sommer Infektionen auch über Landesgrenzen hinweg verfolgen können, veröffentlichte die E-Health-Kommission der Europäischen Union Standards für die Interoperabilität der nationalen Apps. Die grösste Befürchtung der EU ist, dass solche Apps die Reisefreiheit zusätzlich einschränken könnten, wenn Staaten sie zur Bedingung für die Einreise machen.

– 4 – Kein Vertrauen in niemand

Ich habe die «SwissCovid App» schon in der Testphase auf meinem Mobiltelefon installiert. Ihr Nutzen ist eine kleine positive Wahrscheinlichkeit, die mit jedem User wächst. Aber ich gehe damit auch ein Risiko ein: Der Nutzen der App ist berechenbar, der potenzielle Schaden, falls meine Daten missbraucht werden, ist es nicht. Unsere Welt ist ein Tech-Experiment, und wir sind die Probanden.

Das Endprodukt, das ich nun auf dem Handy aktiviert habe, folgt dem Zero-Trust-Prinzip, dem Null-Vertrauen-Prinzip. Die App liefert keine Daten über individuelle Erkrankungen und verschleiert die Identität der Infizierten: Für niemanden erkennbar, wie viele Alarmmeldungen die App versendet, was auch bedeutet: Niemand kann direkt messen, ob die App wirksam ist.

Dieser strenge Datenschutz ist weniger eine Tugend als eine Kapitulation vor der Realität. Unser digitales System ist so unsicher geworden, so anfällig für Datenklau, dass sich optimale Lösungen gar nicht umsetzen lassen. Die Privacy-Kriterien, die nun angewendet wurden, beruhen auf der deprimierenden Einsicht aller Beteiligten, dass sowohl Staaten wie auch Unternehmen oder Private, beispielsweise Hacker, in der Lage sind, persönliche Daten im grossen Stil zu missbrauchen.

Die Corona-App ist zwar Open Source – der Programmcode ist für alle einsehbar und die Software gratis -, nicht aber die Schnittstelle zum Betriebssystem. Was dahinter mit den Daten passiert, ist unklar. Hier beginnt das Reich von Google und Apple. Es ist, als ob man die Bauanleitung einer Tür veröffentlicht, aber nichts über das Zimmer dahinter weiss. Theoretisch könnten Google und Apple das Betriebssystem anpassen und die Daten extrahieren. Mathias Payer von der EPFL geht davon aus, dass man dies bemerken müsste. Doch die Experten sind sich uneins.

Was hat uns nun die digitale Welt gebracht? Liefert sie den Tech-Fix gegen die Pandemie?

Wir werden es wohl nie herausfinden. Die einzigen Kennzahlen, die der Bund uns mitteilen kann, weil es die einzigen sind, die er erhält, werden – neben einer Schätzung der aktiven Nutzerzahlen – zeigen, wie viele App-Nutzer sich nach einem positiven Test von ihrem Arzt den Code für eine Infektionsmeldung aushändigen lassen und wie viele von ihnen dann mit diesem Code die Warnmeldungen der App aktivieren. Niemand weiss, wie viele Warnmeldungen versandt werden und wer sie bekommt – genau das will das dezentrale System.

Es wird folglich keinen Indikator für die Wirksamkeit der App geben, sondern lediglich einen für das Ausmass unseres Vertrauens in die App – also für unsere Hoffnung in die Technologie.

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