June 26, 2021

Eine App um mit Tieren zu sprechen

Aza Raskin arbeitet an einer künstlichen Intelligenz, die Kommunikation zwischen den Spezies ermöglichen soll.

Aza Raskin, 37, ist einer der Macher des Netflix-Dokumentarfilms «The Social Dilemma», ein weltweit einflussreicher Tech-Kritiker – und gleichzeitig ein Tech-Euphoriker. Sein Vater, Jef Raskin, war ein verspieltes akademisches Universalgenie. Er brachte das Design in die Computerwelt, erfand Drag-and-drop und begründete 1984 die Macintosh-Produktlinie – damit begann der Aufstieg von Apple. Und der Aufstieg der Idee «humaner» Digitalisierung. So nennt man den Glauben, dass digitale Technologie die Menschen vervollkommnen, ihr Leben verbessern und letztlich sogar die Welt retten kann.


Jef Raskins Sohn Aza trägt nun diese Idee als Entwickler, Erfinder, Designer und Unternehmer weiter. Er hatte Einfluss auf die Gestaltung des Firefox-Browsers und des Google-Play-App-Stores. Nicht alle seine Erfindungen erweisen sich jedoch als Segen. So hat Aza Raskin sich dafür entschuldigt, die «bodenlose Website» erfunden zu haben – also das Endlos-Scrollen, dem so viele Nutzer bei Instagram, Facebook oder Tiktok erliegen.


Raskins neueste Idee: Er will künstliche Intelligenz nutzen, damit wir mit anderen Spezies sprechen können. Dafür hat er eine internationale Koalition aufgebaut. Auch in der Schweiz wird im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts «Evolving Language» an Tierkognition, an Ursprung und Zukunft von Sprache geforscht.
Das Interview führte Aza Raskin von Hawaii aus via Zoom, und weil er auch ein Schreiber ist, entwickelte sich nach dem Gespräch ein nicht enden wollendes Hin und Her via Google Doc. «Wir stehen vor dem Durchbruch», sagte er schliesslich. «Ich glaube, dieses Interview ist die bislang beste Zusammenfassung unserer Arbeit.»

Das Magazin: Was ist Ihr Pitch, wenn Sie jemand fragt, woran Sie zurzeit arbeiten?
Aza Raskin: Wir wollen die Kraft künstlicher Intelligenz nutzen, um Tierkommunikation zu entschlüsseln, damit die Menschheit den Kontakt zu anderen Spezies herstellen kann. Wirnennen es «Earth Species Project». Das Projekt soll einerseits unsere Fähigkeit schulen zuzuhören und andererseits helfen, den ökologischen Zusammenbruch abzuwenden.

Oh! Sie wollen die Welt retten. Aber erlauben Sie zuerst die Frage: Können Tiere überhaupt sprechen?
Es könnte sein, dass wir herausfinden, dass sie sprechen. Was wir bisher wissen: Alle nichtmenschlichen Spezies kommunizieren, manche auf extrem komplexe Weise. Wir alle haben schon mit nichtmenschlichen Wesen kommuniziert. Schauen Sie sich nur die tiefen Bindungen an, die wir zu unseren Haustieren entwickeln – das wäre ohne Kommunikation nicht möglich. Eine der faszinierendsten Untersuchungen dazu machte Stacy Braslau-Schneck 1994 an der Universität von Hawaii. Braslau-Schneck brachte Delfinen bei, auf zwei Gesten hin erstaunliche Dinge zu tun. Erstens: «Zeig einen Trick, den du noch nicht gezeigt hast!» Etwas Neues tun ist ein abstraktes Konzept, das Gedächtnis und Bewusstsein für früheres Verhalten erfordert. Was mich aber noch mehr fasziniert, ist die zweite Geste, mit der sie Delfinen signalisierte: «Macht gemeinsam etwas, das ihr noch nicht gezeigt habt.» Die Delfine tauchen also unter und verständigen sich durch Zirpen untereinander, und dann zeigen sie gemeinsam einen Trick, den sie während dieser Aufführung noch nicht gemacht haben.
Welche Informationen tauschten sie aus?
Das ist die Frage! Menschliche Sprache folgt einem Muster, das als Zipfsches Gesetz bezeichnet wird: Das häufigste Wort wird doppelt so oft verwendet wie das zweithäufigste und dreimal so oft wie das dritthäufigste et cetera. Brenda McCowan, eine Verhaltensbiologin, und der Astrophysiker Laurance Doyle vom SETI Institute – beide unterstützen unser Projekt– zeigten 2011 eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Kommunikation von Menschen und jener von Delfinen. Auch die Delfin-Kommunikation folgt dem Zipfschen Gesetz.
Gibt es weitere Ähnlichkeiten zwischen der Kommunikation von Menschen und jener anderer Spezies?
Einige Tiere verwenden in ihrer Kommunikation einfache Kombinatorik, was ebenfalls ein Kennzeichen menschlicher Sprache ist. Campbell-Meerkatzen verwenden ein Suffix, um die Bedeutung ihrer Rufe zu erweitern. Hok bedeutet für sie «Bedrohung durch Adler», Krak bedeutet «Bedrohung durch Leoparden». Hok-oo warnt vor einer Bedrohung von oben und Krak-oo vor einer Bedrohung vom Boden.
Noch mal zurück zu den Delfinen: Wissen wir also, was sie miteinander kommuniziert haben?
Oh, diese Aufnahmen hätten wir gerne! Also: nein. Aber je genauer wir hinschauen, desto mehr Komplexität und Reichtum sehen wir in der Art, wie nichtmenschliche Wesen kommunizieren. Bislang war das menschliche Verständnis auf das beschränkt, was wir wahrnehmen können. KI hebt diese Beschränkung auf. Das ist sehr aufregend.
Es gibt Märchen über Tier-Mensch-Gespräche, doch nur einen belegten Fall: den des Graupapageis Alex.
Oh, ja. Die Arbeit der Tierpsychologin Irene Pepperberg!
Der Graupapagei Alex artikulierte etwa hundert englische Wörter und konnte bis sechs zählen. Er ist der einzige bekannte Fall, dass ein Nichtmensch einem Menschen eine Frage stellte. Vor einem Spiegel fragte Alex plötzlich: «Welche Farbe?» Aber sogar Pepperberg, die Forscherin, befand, dass es nicht unbedingt ein Gespräch im engeren Sinn war. Viele Wesen geben Laute von sich, ohne dass wir wissen, ob sie jemandem damit Informationen vermitteln wollen. Wie lässt sich herausfinden, wann ein Signal als beabsichtigte Kommunikation gemeint ist?
Theoretisch: wenn wir belegen können, dass die Absicht besteht, das Verhalten eines Gegenübers zu beeinflussen. Praktisch: Es gibt viele Belege reichhaltiger nichtmenschlicher Kultur, und es ist schwierig herauszufinden, welche Rolle Kommunikation dabei spielt. Der Biologe Hal Whitehead untersuchte historische Datendar über, wie viele Pottwale in den 1820er-Jahren harpuniert wurden, und stellte fest, dass die Tiere offenbar schnell gelernt haben, den Jagdtechniken der Walfänger auszuweichen.
Wie kann uns künstliche Intelligenz dabei helfen, mit anderen Spezies zu kommunizieren?
2017 gab es einen Durchbruch in der KI-Forschung: Zwei Forscherteams zeigten Wege auf, wie man übersetzen kann, ohne dass man die einzelnen Sprachen kennt, versteht oder Übersetzungsbeispiele hat. Es war dieser Durchbruch, der das Earth Species Project ins Leben gerufen hat – eine Idee, die ich seit 2013 im Kopf hatte.
Und wie funktioniert es?
Solange man nicht weiss, wie es geht, erscheint es unglaublich. Wenn man es aber weiss, erscheint es verblüffend einfach. Stellen Sie sich die Sprache als eine Galaxie vor, in der jedes Wort ein Stern ist. In dieser Galaxie gelten zwei Dinge Erstens: Sterne, deren Wörter ähnliche Dinge bedeuten, sind nahe beieinander. Zweitens: Die Entfernung und Richtung zwischen den Sternen repräsentiert die Beziehung zwischen ihren Wörtern.
Können Sie das genauer erklären?
Punkt 1 sagt, dass man in der Nähe des Sterns für «Katze» den Stern für «katzenartig» findet und in der Nähe des Sterns für «stinkend» den Stern für «übel riechend». Punkt 2 ist kniffliger. Er besagt, dass Analogien geometrisch sind. «Katze» verhält sich zu «katzenartig» wie «Hund» zu «hundeartig». Wenn Sie also die gleiche Entfernung in der gleichen Richtung zurücklegen, den gleichen Vektor nehmen wie zwischen «Katze» und «katzenartig», jedoch bei «Hund» beginnen, kommen Sie in der Nähe von «hundeartig» an.
Aha!
Anderes Beispiel: «Stinkend» verhält sich zum vornehmeren «übel riechend» wie «schlau» zu «gewandt». Wenn Sie, bei «schlau» beginnend, in die gleiche Richtung gehen und dieselbe Entfernung zurücklegen, die zwischen «stinkend» und «übel riechend» liegt, kommen Sie zu «gewandt».
Und wie sieht so eine Sprachform aus?
Das Galaxie-Diagramm der 10’000 am meisten gesprochenen englischen Wörter beispielsweise sieht aus wie eine Art Sternhaufen, nur aus der Ferne betrachtet. Allerdings wird es in Hunderten von Dimensionen errechnet – und wir können ja nur drei Dimensionen sehen. Ein Bild davon ist daher nur eine Art Schatten oder Schema.
Welche Rolle spielt da nun das maschinelle Lernen?
Seit 2013 ist künstliche Intelligenz in der Lage, diese Sprachformen zu bilden, indem sie mit Text gefüttert wird, in dem Wörter fehlen, und dann trainiert wird, die fehlenden Wörter vorherzusagen. Diese Technik hat ihre Wurzeln in einer Erkenntnis, die der englische Linguist John Rupert Firth im Jahre 1957 formulierte: «Man soll ein Wort an seiner Gesellschaft erkennen.» Also an den Wörtern, die häufig in seiner Umgebung stehen.
Gilt das für alle Sprachen?
Tatsächlich ist das Interessante an diesen Formen, dass jede Sprache im Grossen und Ganzen eine spezifische Form darstellt. Um die Form zu bilden, löst die KI eine Art mehrdimensionales Sudoku-Puzzle.
Wie hilft uns dieses Puzzlespiel bei Übersetzungen?
Betrachten Sie den Begriff «Hund». Er hat eine Beziehung zu «Mensch», «Wolf», «Fell», «Katze», «Heulen, «Tollwut», «Autos», «Briefträger» und so weiter. So entsteht eine kleine Konstellation. Diese Beziehungen schränken die relative Position eines gesuchten Begriffes auf eine leicht abgrenzbare Position innerhalb dieser Sprachgalaxie ein. Die meisten «Begriffskonzepte» stehen in dieser Weise in Beziehung zu vielen anderen Konzepten und werden dadurch wiederum auf einen solchen Platz im Raum beschränkt. Wenn wir all diese Wortbeziehungen zusammen errechnen – und das können Computer heute –, erscheint eine Form: die Form der Sprache.
Und der Durchbruch im Jahr 2017…
…war die Erkenntnis, dass die Formen verschiedener Sprachen sehr ähnlich sind. Die Forscher hatten eine Methode gefunden, die Sprachgalaxien aneinander auszurichten. Sobald man das tat, befanden sich der Stern für «Hund», jener für «Heulen» und der für «katzenhaft» für alle diese Sprachen ungefähr an der gleichen Stelle. Die Form der Sprachgalaxie für Japanisch stimmt dabei mit der Form für Deutsch überein, die wiederum mit der Form für Finnisch, Esperanto, Türkisch und Aramäisch übereinstimmt und so weiter. Die meisten menschlichen Sprachen, so scheint es, passen in eine universelle «Bedeutungsgestalt».
Ist das der Grund, warum Übersetzungs-Apps in den letzten Jahren so viel besser geworden sind?
Ja, und ich finde das auf einer fundamentaleren Ebene relevant. Jetzt, in dieser Zeit der Polarisierung und Spaltung, stellen wir fest, dass es trotz allen Streits eine versteckte Struktur gibt, die uns eint. Allerdings wurden die Forschungsdurchbrüche mit geschriebenem Text erzielt. Erst jetzt entdeckt die künstliche Intelligenz Techniken, die solche Formen zuverlässig aus Audio aufbauen können.
Zurück zu den Tieren: Wie erfassen Sie Daten? Tauchen Sie mit einer Art Mikrofon in den Ozean und nehmen die Stimmen von Buckelwalen auf?
Um diese Daten zu bekommen, arbeiten wir mit über vierzig Biologen und Ethnologinnen zusammen, die ihr Leben lang mit Mikrofonen, Hydrofonen, Kameras, Drohnen, Ferngläsern und Notizbüchern im Feld unterwegs waren. Dazu haben wir die Earth Species Library eröffnet, eine Open-Source-Datenbank, die solche Datensätze sammelt, in Formaten, die für maschinelles Lernen tauglich sind. Wir haben uns dabei mit dem Internet Archive zusammengetan, damit diese wertvollen Datensätze auch für kommende Generationen zugänglich bleiben.
Laut Schätzungen gibt es eine Billion Arten auf der Erde. Wie viele davon haben Sie in der Datenbank?
Wir haben Tausende von Stunden nichtmenschlicher Kommunikation aufgezeichnet, und zwar von bisher mehr als fünfzig Arten. Über 25 Terabyte an Daten. Und es werden jede Woche mehr.
Warum konzentriert sich Ihr Projekt auf akustische Kommunikation? Ein grosser Teil der Kommunikation geschieht doch visuell. Ich etwa spreche viel mit meinen Händen.
Es gibt so viele Arten zu kommunizieren. Es gibt Buckelwale, die gelernt haben, gemeinsam eine Art «Blasennetz» zu bilden, um Beute zu fangen. Stellen Sie sich eine Spirale aus Blasen vor, die die Wasseroberfläche in einem Radius von rund dreissig Metern durchbricht. Plötzlich kommen Hunderte Fische aus dem Wasser, gefolgt von fünf Buckelwalmäulern, die die Schwärme verschlingen. Gerade weil es so viele Formen der Kommunikation gibt, suchen wir nach Möglichkeiten, das Problem zu vereinfachen.
Und wie versuchen Sie das?
Kommunikation mithilfe von Tönen ist oft vorteilhaft. Licht kommt unter Wasser nicht weit, Schall hingegen schon. Wale bewegen sich schnell und kommunizieren häufig, ohne einander sehen zu können. Also können wir davon ausgehen, dass ein Grossteil ihrer Kommunikation über die Stimmen und den Gehörsinn erfolgt. Es ist möglich, dass ein Buckelwal, der in der Karibik singt, von einem Walgenossen vor der Westküste Irlands in viertausend Meilen Entfernung gehört wird. Wir arbeiten nicht nur mit Geräuschen, sondern mit sogenannten multimodalen Datensätzen – die schicke Umschreibung für Aufnahmen, die Video-, Audio- und andere Sensordaten enthalten.
Wir interpretieren nichtmenschliche Wesen oft falsch. Der Forscher Con Slobodchikoff plant daher eine App, um Hundelaute besser zu verstehen. In zwei Jahren soll sie funktionieren. Ist es das, woran Sie arbeiten: ein Google Translate für Tiere?
Ich stelle mir das Ergebnis von Earth Species eher so vor, dass man Tierfilme wie «Unser blauer Planet» untertiteln kann. Dass die Definition von «Persönlichkeit» gerichtlich ausgeweitet wird auf nichtmenschliche Arten, dass Zoos verboten werden, dass Schiffe in der Lage sind, Wale sanft über ihre Anwesenheit zu informieren.
Sie behaupten, es gebe eine Struktur, die allen menschlichen Sprachen zugrunde liegt – glauben Sie, es gibt auch eine gemeinsame Struktur für die Kommunikation aller Lebensformen?
Das ist die Frage! Gibt es Ähnlichkeiten mit der Form der menschlichen Sprache? Liegt die Tierkommunikation näher bei der menschlichen Musik? Oder ist sie vielleicht wie menschliche Poesie? Erinnert sie an menschliche Emotionen? Falls es eine Überschneidung gibt, wird diese es uns ermöglichen, eines Tages die Gedanken eines anderen intelligenten Wesens in Worte zu übersetzen, die wir verstehen können.
So einfach soll das gehen?
Die Frage führt zum «Umwelt-Problem» das Jakob von Uexküll formuliert hat: Vielleicht unterscheidet sich die Erfahrung, ein Wal zu sein, so sehr von der Erfahrung, ein Mensch zu sein, dass die Formen unserer Kommunikation überhaupt keine Gemeinsamkeiten haben.
Selbst Menschen verstehen Artgenossen mit einem ganz anderen Hintergrund ja manchmal kaum…
Obwohl wir nie wissen werden, wie es ist, ein Wal oder eine Fledermaus zu sein, teilen wir Menschen doch auch viele Erfahrungen mit Nichtmenschen: Wir müssen essen, schlafen, uns verteidigen, wollen uns paaren und bewegen uns in komplexen sozialen Situationen. Bonobos spielen. Delfine werden high von Kugelfischen. Schimpansen tanzen im Regen, und sie scheinen Trauer zu empfinden, ebenso Orcas und Elefanten. Orca-Mütter können ein totes Kalb wochenlang mit sich herumtragen, Elefanten verweilen still bei toten Familienmitgliedern.
Gibt es auch nichtmenschlichen Humor?
Schimpansen und Mäuse lachen jedenfalls und lassen sich kitzeln. Bei vielen Walarten geben Mütter kulturelles Wissen an das Kind weiter. Bei Orcas gibt es sogar einen «Grossmutter»-Effekt: Die Anwesenheit von postreproduktiven Orcas erhöht die Überlebensfähigkeit der Enkel. Hal Whitehead, der herausragende Walforscher, sagt: «Bei Killerwalen ist das, was die Oma weiss, sehr, sehr wichtig.»
Grosseltern sind nicht nur für Menschen wichtig.
Noch eine Eigenschaft, die wir oft als einzigartig menschlich betrachten, teilen wir mit manchen Spezies: die Erfahrung, sich seiner selbst bewusst zu sein. Denn tatsächlich ist der Mensch nicht die einzige Spezies, die ein Ich-Bewusstsein hat.
Woher wissen wir das?
Durch ein einfaches Experiment namens Spiegeltest: Man platziert eine Markierung auf dem Körper eines Tieres an einer Stelle, die es nur im Spiegel sehen kann. Wenn das Tier in den Spiegel schaut und die Markierung dann auf seinem Körper untersucht, wissen Sie, dass das Wesen verstanden hat, dass es sich selbst ansieht, wenn es in den Spiegel schaut.
Welchen Spezies gelingt das?
Auch Delfine, Menschenaffen, Elefanten, Elstern und sogar eine Fischart haben ein Bild von sich selbst, ein Ich-Bewusstsein. Das Selbst-Bewusstsein ist ein grundlegender Teil menschlicher Erfahrung. Dass es auch Teil der Erfahrung anderer Arten zu sein scheint, lässt hoffen, dass die Überschneidungen, die wir finden, etwas Tiefgreifendes abbilden könnten.
Okay, vielleicht werden wir imstande sein, Teile der Kommunikation anderer Arten zu übersetzen. Aber vieles wird für uns absolut unverständlich bleiben!
Die sich nicht überlappenden Teile werden zwar nicht direkt übersetzbar sein, aber das bedeutet nicht, dass wir keine sinnvollen Fragen darüber stellen können. Vielleicht ist es sogar so, dass in jenem Teil der nichtmenschlichen Kommunikation, der nicht direkt übertragbar ist, der grösste Wissensschatz liegt.
Wie meinen Sie das?
Der Mensch kommuniziert seit weniger als 100’000 Jahren akustisch. Delfine kommunizieren seit mehr als 30 Millionen Jahren über Laute. Stellen Sie sich vor, welche Landschaften wir sehen könnten, wenn wir es schaffen, aus dieser Perspektive, die so weit von unserer entfernt ist, nur einen flüchtigen Blick zu erhaschen, so wie ein körniges Foto.
Was würden Sie gern erforschen?
Wir könnten versuchen, für uns zu übersetzen, was ein Tier innerhalb einer Gruppe zu einem anderen sagt, dann von einem Dialekt zu einem verwandten Dialekt innerhalb einer einzelnen Art; dann zuimmer weiter entfernten Dialekten; dann von einer Art zu einer verwandten Art. In Norwegen und Neuseeland kommen Falsche Schwertwale und Grosse Tümmler zusammen, um in Supergruppen zu jagen; beide Arten sprechen dann in einer Art kombiniertem Pidgin.
Stimmt es, dass Tiere mit Pflanzen kommunizieren können?
An der Universität von Tel Aviv haben Forschende Primeln verschiedene Arten von Geräuschen vorgespielt. Wenn das Geräusch einer sich nähernden Biene abgespielt wurde, begannen die Blumen, mehr und süsseren Nektar zu produzieren. Sie waren offenbar in der Lage, das Geräusch einer näher kommenden Biene zu «hören» und darauf zu reagieren. Die Forscher testeten auch Tabak- und Tomatenpflanzen. Sie stressten diese, indem sie sie beschnitten oder dehydrierten, und hörten dann mit speziellen Mikrofonen die Geräusche ab, die die Pflanzen machten. Die Pflanzen senden akustische Notsignale aus. Sie schreien in der Intensität, in der Menschen sprechen, nur eben weit über unserem Hörfrequenzbereich. Stellen Sie sich vor, wie ein Feld oder ein Wald klingen würde, wenn wir ihn wirklich hören könnten!
Es würde uns vielleicht verrückt machen.
Könnten wir unsere menschlichen Sinne öffnen und die Welt ein wenig näher so erleben, wie sie tatsächlich ist, würden wir wohl von Ehrfurcht überwältigt.
Kommen wir auf Ihre Hoffnung zurück, die Welt zu retten. Momentan sieht es nicht gut aus – wir leben im Zeitalter des sechsten Massenaussterbens.
Das Earth Species Project soll die menschliche Kultur verändern – schnell. Wir haben keine Zeit mehr. Earth Species soll ein Beschleuniger sein für jede Naturschutz-, Klima- und Umweltangelegenheit. Allein dieses Interview wird ein paar Menschen verändern.
Wirklich?
Nachdem beispielsweise die Reporterin Alix Spiegel von der «New York Times» über Earth Species berichtet hatte, wurden sie und ihre ganze Familie zu Vegetariern. Obwohl Spiegel, wie sie sagt, Gemüse hasst. Die Natur mit staunenden Augen zu sehen, lässt uns die ökologische Krise spüren, anstatt sie auszublenden. Dies wiederum bringt uns dazu, unser Verhalten zu ändern. Wir alle hatten doch schon Momente in unserem Leben, in denen wir einen fundamentalen Perspektivwechsel erlebt haben. Und das hat verändert, wer wir sind, wie wir handeln und wie wir uns zeigen. Das kann auch der Zivilisation als Ganzes passieren.
Das klingt sehr optimistisch.
Im Jahr 1966 nahm ein Tontechniker der Navy zufällig Walgesänge auf, die so beeindruckend waren, dass er das Band mit zwei Bioakustikern teilte – dem Ehepaar Roger und Katy Payne. Die beiden entdeckten in der Aufnahme Gesangsmuster, die der menschlichen Musik bemerkenswert ähnlich sind. «Songs of the Humpback Whale», das Album, das sie daraus erstellten, war ein grosser Verkaufserfolg, wurde mehrfach mit Platin ausgezeichnet, wurde vor der Generalversammlung der UNO gespielt und floss ins Drehbuch von «Star Trek IV» ein. Walgeräusche daraus wurden sogar mit der Voyager-Mission ins All geschickt. Als Ergebnis des neuen öffentlichen Bewusstseins, zu dem diese Aufnahmen beigetragen hatten, beschloss die Internationale Walfang-Kommission IWC im Jahre 1982, den kommerziellen Walfang zu verbieten.
Es geht also um einen Perspektivwechsel.
Als die Menschheit auf dem Mond landete, sahen wir unsere Heimat, die Erde, allein im Weltraum schweben. Jede Liebesgeschichte, jede Nation, jedes Leben war auf diesem winzigen blassblauen Punkt enthalten: Diese Bilder verzauberten die gesamte Menschheit. Unsere Welt von aussen zu sehen – das verschob unsere kollektive Perspektive. Der moderne Umweltschutz begann. Es entstand ein kultureller Moment, der die Welt veränderte. Auch die KI ist so ein kultureller Moment: Sie wird uns entdecken lassen, dass wir nicht der Mittelpunkt der Erde sind.
An welchem Aspekt Ihres Projekts arbeiten Sie momentan ganz konkret?
Am sogenannten Cocktailparty-Problem: Selbst mit den neuesten Instrumenten und Analysetechniken sind Wissenschaftler nicht in der Lage zu erkennen, welches Wesen sich gerade äussert. Bei hochsozialen Tieren, die sich in Gruppen bewegen – Wale, Vögel, Frösche, Wölfe und so weiter –, ist die Mehrheit der Daten unbrauchbar.
Ihr Vater war berühmt für seine Arbeit an Interfaces. Seine Forschung führte zur Erfindung des PCs mit grafischer Benutzeroberfläche. Im Grunde erforschte er, wie man mit Maschinen sprechen kann. Steht Ihre Arbeit in Bezug zu dieser Familientradition?
Als mein Vater den Macintosh entwickelte, war die grundlegende Frage, die er sich stellte: Wie können Menschen und Maschinen besser in der Sprache des anderen sprechen?. Wie können Menschen leichter mit Maschinen interagieren, und wie können Maschinen Menschen leichter verstehen? In gewisser Weise ist das Earth Species Project eine Erweiterung dieser Arbeit: Meinen Vater interessierte die Übersetzungsebene zwischen Menschen und Maschinen; was wir jetzt bauen, sind Maschinen, die die Übersetzungsebene zwischen uns und den anderen Spezies der Erde sein sollen.
Ihre Mutter war Palliativpflegerin.
Sie hat Menschen geholfen, in Würde zu sterben. Ihre Fürsorge äusserte sich in ihrer Empathie – sehr direkt, sehr fühlbar. Die Arbeit meines Vaters war ganz ähnlich, aber konzeptioneller. Um ein Designer zu sein, muss man von der Frage besessen sein, wie es ist, jemand anderes zu sein. Dieses Verständnis ist es, was es einem ermöglicht, wirklich für andere zu entwerfen.
Man könnte also sagen, Sie führen die Arbeit von beiden Eltern weiter.
Ja, so gesehen ist das Earth Species Project eine Synthese ihrer Arbeit. Aber genauso der Arbeit meiner Mitgründerinnen Britt Selvitelle und Katie Zacarian! Und aller Biologen und Wissenschaftlerinnen, mit denen wir zusammenarbeiten – vom Imperial College in London über das CETI-Projekt bis zu unserer Open-Source-Gemeinschaft im Netz.
Wir sprechen über eine ferne Hoffnung. Werden unsere Kinder einmal mit anderen Spezies sprechen können?
Ja, das glaube ich.

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