Man könnte sagen, Ledgard hatte Himmel und Hölle durchwandert, um hierhin zu kommen. Aber begonnen hatte alles in der Hölle.
Während sein Taxi in der Morgensonne Kigalis über den glatten Asphalt der Embassy Row rollt, gleitet Ledgards Blick über die Szenerie, die sich vor seinem Autofenster auftut. Vorbei an der riesigen, vielfarbig illuminierten Stahl-und-Glas-Kugel des brandneuen Convention Center, des beliebtesten Instagram-Motivs Ruandas, hinauf zur Skyline des Geschäftsviertels Kiyovu.
Die Stadt der vielen Hügel sieht aus, als hätte man Mexiko-Stadt zur Hälfte mit Dschungel und Gemüsegärten ersetzt. Es ist frisch, kühl, grün. Die hoch gelegene Hauptstadt Ruandas wirkt wie ein afrikanischer Traum. Bald wird der Tourismus dieses Land entdecken. Noch einmal überfliegt Ledgard seine Notizen. Das Finale steht bevor. Er gegen die Geister, die er gerufen hat. Er fragt sich, ob vielleicht genau das sein Fehler gewesen ist: Offenheit. Eine ganze Stunde hat er gestern versucht, diesem jungen Amerikaner zu erklären, worum es hier gehe. Dass seine Idee nicht einfach ein weiterer Business-Case sei, sondern ein historischer Moment. Scheitern oder Überleben.
Spezialeinheiten mit Sturmmasken stoppen Ledgards Fahrzeug auf der langen Geraden, die zum Tagungsort des Weltwirtschaftsforums führt. Sie tragen die neuesten israelischen Maschinengewehre, Tavor X95, die aussehen wie Laserkanonen. Grosse Betonblöcke versperren die Strasse, nur die Jeeps der Staatschefs dürfen durch. Ledgard steigt aus, schwenkt eine Plastikkarte, die ihm vor der Brust hängt, und passiert eilig die erste Schleuse. Ein Europäer Ende vierzig, athletisch, mittelgross, kurzrasierte Haare, Hornbrille, sein Ja-ckett zu hellblau für einen Geschäftsanzug, sein Hemdkragen modisch abgerundet. Ein kleiner Metallstern im Revers. Sein Markenzeichen. Wenn man eine Idee herausgibt, dann ist das, als ob man eine Waffe verschenkte.Was Ledgard persönlich trifft, ist die Sache mit dem Blut. Dass die Amerikaner sie nutzten, ohne seinen Namen zu nennen. Dabei war es seine Idee, davon ist er überzeugt. Nach ihr hatte er schliesslich alles benannt: Redline – das Drohnennetzwerk zur Blutversorgung. Das weltweit erste funktionsfähige Drohnen-Transport-Netzwerk. Blut sollte die Killer-App für Drohnen werden, der Durchbruch. So hatte Ledgard sich das überlegt. Rekordschnelle Blutlieferungen für gebärende Mütter wa-ren unschlagbar als Argument bei zögerlichen Gesetzgebern mit Terror-angst. Gute Drohnen. Drohnen als Helfer. Das Blut sollte den Drohnen die Pforten zum Himmel öffnen. Der Beginn einer neuen Infrastruktur-Epoche, Schienen im Himmel. Erstmals verlegt hier in Afrika.Es sind nur wenige hundert Meter bis zum Eingang des Forums, dem afrikanischen Ableger des World Economic Forum (WEF) in Davos, wo er heute zum letzten Mal seine Botschaft verkünden wird.
Er stoppt an einem Geldautomaten gegenüber dem Hotel Serena, aus dem gerade Anzugträger in Richtung Forum strömen. Im Screen reflektiert die Morgensonne. Die Geldscheine, die der Automat ausspuckt, zeigen Laptops neben Gorillas und Kaffeebohnen. Dieses Land rast seit dem Genozid Richtung Zukunft. Ein passenderer Ort für diese Story war kaum denkbar. «Jonathan!» Ein Mann tippt ihn an. Brite, dunkle Haare, etwas jünger.«Oh, hey Jonathan!» Wie seltsam, dass sein früherer Arbeitgeber ausgerechnet einen Nachfolger gewählt hatte, der den gleichen Vornamen trug. «Grossartig, dich zu sehen!», antwortet Ledgard.«Ich muss weiter. Aber das mit deinem Drohnennetzwerk musst du mir bei Gelegenheit erklären! Wir haben es in der Redaktion in London diskutiert, aber ich steig' noch nicht durch.» Ledgard nickt. «Mach ich gern. Jederzeit.» Er lächelt abwesend. Mittlerweile ist er es gewohnt, gegen die Zweifler anzukämpfen. Noch vor kurzem war Jonathan Magnus Ledgard selber Reporter. Als sein damaliger Arbeitgeber, das britische Magazin The Economist, ihn Mitte der nuller Jahre aus Afghanistan nach Nairobi versetzte, begann er sich dort bald überraschend wohlzufühlen. Wenige können Gesellschaften so eingehend kennenlernen wie Korrespondenten mit der rich-tigen Visitenkarte. Ledgard besuchte Slums und Staatschefs – und sah einen hoffnungsvollen statt des «hoffnungslosen Kontinents», wie der Economist vor seiner Ankunft einst geurteilt hatte. Das wollte Ledgard vermitteln. 2012 schaffte er es: «Africa Rising» titelte das weltweit führende Wirtschaftsblatt. Das US-Magazin Time übernahm den Titel. Ledgard sah, wie seine Worte die Bilanzen ganzer Länder veränderten. 2012 erschien sein zweiter Roman, Submergence, bejubelt von der Kritik. «Ledgard hat die seltsame Gabe, gleichzeitig in der Gegenwart und der Zukunft zu leben», schrieb die Wochenzeitung The New Yorker. Hollywood kaufte die Rechte und setzte Regisseur Wim Wenders darauf an, 2017 soll der Film in Cannes debütieren. Wer hätte das gedacht von dem nuschelnden, mit einer Hasenscharte gezeichneten Pfarrerssohn aus den abgelegenen Shetland-Inseln im Norden Schottlands? Er hastet weiter, direkt zu den Metalldetektoren und uniformierten Empfangsleuten. Der Haupteingang. Kein Zutritt für Journalisten. Das WEF ist eine Klassengesellschaft. Sein Nachfolger in der Warteschlange – orangefarbener Badge – muss wohl den Nebeneingang benutzen. Ledgard legt seinen Badge auf den Detektor.Was ihn weggezogen hatte vom Leben als Berichterstatter, war jene Gabe, die Zukunft im Jetzt zu spüren. Daran war nichts Übersinn-liches. Er kombinierte Informationen. In Anbetracht der Geburtenraten wird Afrika 2050 über eine Milliarde Menschen mehr ernähren müssen.
Das derzeitige Wirtschaftswachstum, so stark es auch sei, reicht dafür nicht aus. Dazu kommt der Klimawandel. In seinen schlimmsten Momenten sieht Ledgard Kriege und Umstürze, die Implosion des bevölkerungsreichsten Kontinents. Die Zukunft unserer Welt, davon ist er überzeugt, hängt daran, dass sich Entschei-dendes verändert in Afrika. Und zwar jetzt. Wie das gehen kann, hatte er einst im tiefsten Süden Somalias verstanden. Aber er war als Reporter ja nur einer, der Bericht erstattete. Andere handelten. Also wartete er, fünf lange Jahre. Bis zu jenem Mo-ment, in dem er einsah, dass es wohl niemand sonst machen würde. Dass die Zeit für ihn gekommen war, entweder selber Geschichte zu schreiben oder aufzugeben. Wir leben in einer Epoche, in der Realität und Fiktion verschmel-zen. In der Unternehmer umsetzen, was sie in Zukunftsromanen lesen. Sie schicken Raketen Richtung Mars und legen uns sprechende Uhren ums Handgelenk. Die Zeit war reif, fand Ledgard.Sein Passfoto erscheint jetzt bei der Eingangskontrolle zum WEF auf einem Screen, der Sicherheitsmann nickt freundlich. Heute will Ledgard abschliessen, was einst in Somalia begonnen hat. Er tritt ein. Im Sommer 2009 schlängelt sich eine Wagenkolonne durch die glühend heisse Juba-Region. Der Juba-Fluss entspringt im äthiopischen Hochland und ergiesst sich im Süden Somalias in den Indischen Ozean. Es ist einer der längsten Flüsse der Welt. Eigentlich leben in seinem Bassin Löwen, Nilpferde, Strausse, sogar wilde Esel. Doch eine furchtbare Dürre hatte das Land ausgetrocknet. Gleichzeitig wütete in Somalia der jahrzehnte-lange Bürgerkrieg in neuer Härte. Genau dorthin fuhren die Fahrzeuge. Es war ein Deal. Dafür, dass das World-Food-Programm Nahrungs-mittel in die von Al-Shabab-Kämpfern besetzte Region brachte, hatten die islamistischen Milizen zwei westliche Reporter akzeptiert. Einer der beiden war Jonathan Magnus Ledgard, damals 41-jähriger Ostafrika- Korrespondent des Economist. Seine Mission bestand darin, herauszufinden, was in dieser unzugänglichen Region derzeit passierte.
Irgendwann, als in den Bäumen am Strassenrand nicht einmal mehr die üblichen Plastiktüten als Zeichen naher Zivilisation hingen, hielt die Kolonne an. Es war der traurigste Ort, an den Ledgard je gekommen war. Auf dem Boden lagen völlig ausgezehrte Menschen, manche bereits tot, andere im Sterben. Er hörte das Wimmern der Kleinkinder, das Summen der Fliegen, den Wind, der Sand über den trockenen Boden trieb.
Essen und Trinken gab es nicht. Entkommen war unmöglich, denn der Ort wurde von der al-Kaida kontrolliert, oder genauer von ihren soma-lischen Anhängern, der Al-Shabab-Miliz. Es war die Hölle. Ausgemergelte junge Kämpfer, die Kalaschnikows fest im Griff, führten Ledgard zu einem Baum. In dessen spärlichem Schatten stand der Thron des Anführers: einer jener weissen Plastikstühle mit abge-rundeten Sitzlehnen. Es war der ganze Besitz des mächtigsten Menschen vor Ort, den offensichtlich keinerlei Fortschritt erreicht hatte.Nur eine Sache funktionierte erstaunlich gut, bemerkte Ledgard. In jeder seiner beiden Hände hielt der Warlord eines dieser Nokia-Tele-fone, die sich in Afrika zu verbreiten begonnen hatten. Während der Milizenführer widerwillig Audienz gewährte, lenkte er vom Plastikstuhl aus mit gellenden Schreien via Handy seine Truppen. Eigentlich hatte die Welt diese Technologie für zu empfindlich und teuer gehalten. Zumindest, was Afrika betrifft. Im Jahr 2003 hatte der kenyanische Mobilfunkanbieter Safaricom geschätzt, in zehn Jahren auf 500 000 Mobilfunknutzer zu kommen. Es wurden 21 Millionen.Eine wunderbare Geschichte, dachte Ledgard. Ein Journalistenhirn wie seines versucht ständig, alles zu erfassen, Hintergrund wie Vorder-grund. Bild und Rahmen. Jede noch so kleine Information birgt Ge-schichten. So sah er also aus, der Durchbruch der Telefonie in Afrika. Kabelnetzwerke waren oft zu aufwendig in Aufbau und Unterhalt ge-wesen für derart arme Gegenden. Aber das Mobilnetz funktionierte offensichtlich sogar am miserabelsten Ort der Welt. Es verband den So-malier mit seinen jihadistischen Vorgesetzten in weiter Ferne und mit dem Schlachtfeld nebenan. Diese zwei kleinen Nokia-Dinger, wahr-scheinlich chinesische Kopien, bildeten die Geschäftsgrundlage des herrschenden Tyrannen.Ledgards Hirn raste. Einbindung in die Welt. Das war es doch ei-gentlich, woran Afrika bislang gescheitert war! Bob Geldof musste in den 1980er Jahren noch alle grossen Popstars zusammentrommeln, damit überhaupt jemand im Westen mitbekam, dass in Äthiopien Millionen hungerten. Aber diese Nokia-1100-Kopien in den Händen des Kommandeurs, die änderten das, und zwar blitzartig, dämmerte Ledgard. Niemand in Afrika würde noch auf ein Festnetz warten. Manchmal musste man eben Stufen überspringen. Es kam ihm wie ein Blitz. Sein Netzwerk war die Lösung für Afrikas grosses Problem!
An einem Herbsttag im Jahr 2014 fährt Jonathan Ledgard von seinem neuen Zuhause in Lausanne am Ufer des Genfersees hinab Richtung Süden. Auf seiner Fahrt sieht er die bunten Weinreben, gegenüber bei Evian sind die Gipfel weiss, Sonnenstrahlen lassen die dünnen Nebel-wolken leuchten, die über dem Wasser hängen. Der Küstenstreifen ist eine der schönsten Gegenden der Welt. Häuser werden für zweistellige Millionenbeträge gehandelt. Vor wenigen Jahren erstand der britische Architekt Lord Norman Foster ganz oben am Sonnenhang ein Schloss, das Château de Vincy, wo er nun mit seiner Familie lebt und mit dem Privatjet zwischen London und Genfersee pendelt. Es sind nur knapp dreissig Fahrtminuten von Ledgards Wohnung in Lausanne. Vorbei an Rosey, weiter zum Dörfchen Grilly, dann rechts durch die Weinfelder. Nicht jeder ist im Schloss willkommen. Der 81-jährige Lord wird mit Anfragen überhäuft, eine Armee von Presseagenten und persön-lichen Assistentinnen verteidigt seine Privatsphäre, damit er sich auf die Architektur und seine Leidenschaften, Rad fahren und fliegen, konzentrieren kann. Als Ledgard sich meldet, öffnet der Lord die Pforten; die beiden sind alte Bekannte, weil der Journalist einst ein Porträt über ihn verfasst hat. Doch diesmal kommt Ledgard nicht als Reporter. Er hat einen Vorschlag. Foster führt ihn in seine Büroräume. Ledgard weiss, er hat nur wenige Augenblicke, um den alten Herrn für seinen Plan zu gewinnen. Für Ledgard ist Foster wesentlich mehr als nur jener Stararchitekt, der grade am gigantischen kreisrunden Hauptquartier von Apple arbeitet und dessen transparente Stahl-und-Glas-Konstruktionen gefallen oder nicht. Für Ledgard ist Foster ein Erschaffer von Netzwerken, jedes seiner Gebäude ein Knotenpunkt. An seiner Eröffnung hatte Ledgard lange gefeilt: «Sie haben den grössten Flughafen der Welt gebaut, wollen Sie vielleicht den kleinsten bauen?» Damit hat Lord Foster nicht gerechnet. Sein Terminal 3 des Pekinger Flughafens ist das grösste Gebäude der Welt. Gerade eben hatte er den ersten privaten Weltraumflughafen errichtet.«Es könnte Ihr wichtigstes Projekt werden, weil es Leben rettet», sagt Ledgard. Schon seit Jahren hat Foster mit dem Gedanken gespielt, eine Stif-tung zu gründen. Es ging ihm darum, etwas zurückzugeben. Um sein Erbe. Er nickt langsam. Ledgard holt aus: «Sie kommen doch aus Manchester, der Heimat der Industrialisierung. Denken Sie daran, was passierte, als die Unter-nehmer Ihrer Heimatstadt vor fast 200 Jahren erstmals durch Gleise mit Handelspartnern in Liverpool verbunden wurden. Der Reichtum der Stadt explodierte. Weil ein Netzwerk entstanden war. Stellen Sie sich vor, wir stünden heute noch einmal am Beginn eines solchen Zeitalters – und Sie könnten das Fundament dafür legen.»Diesmal aber geht es nicht um Boden. «Stellen Sie sich Schienen im Himmel vor, ein Netzwerk aus kleinen Flugobjekten, Transportdrohnen, die Güter in kürzester Zeit von einem Ort zum anderen bringen. Egal, wie die Strassen aussehen oder ob es überhaupt Strassen gibt. Grössere Drohnen werden grössere Ladungen transportieren, Maschinenteile, Lieferungen zwischen Unternehmen.» Foster versteht sofort. Wenige Jahre zuvor hat er mit seinem jüngs-ten Sohn Eduardo bei einem Urlaub auf Martha’s Vineyard erstmals Drohnen ausprobiert. Sogar im New Yorker Central Park hatten die bei-den noch Drohnen fliegen lassen. Mittlerweile kannte sein Sohn alle neuen Modelle, drehte Filme damit. «Vor meinem inneren Auge sah ich Drohnenschwärme in den Himmel aufsteigen, wunderbar wie Vögel», erinnert sich Foster an das Gespräch. Fliegen ist seine grösste Leidenschaft. «Ich habe alles selber geflogen, Hubschrauber, Segelflieger, sogar Kampfjets», erzählt Foster. Besonders begeistert ihn die Schwarmtechnik. Eine Struktur im Him-mel. In der Schweiz fuhr er oft mit Freunden lange Radtouren, bei denen sie sich als Schwarm formierten. «Jetzt stellen Sie sich das in Afrika vor», fährt Ledgard fort, seine Vision zu erklären. «Ein Drohnennetzwerk könnte helfen, das grösste materielle Problem des Kontinents zu lösen: die Unmöglichkeit, Han-del zu treiben, wo keine Strassen sind, wo die Strassen zu Schlammpisten werden, sobald es regnet, oder wo Rebellen Verbindungen blo-ckieren, um Zölle zu kassieren.» Es war ein altbekanntes und gewaltiges Problem, von dem Ledgard sprach. Ein grosser Teil des afrikanischen Handels findet schlicht nicht statt, weil es so schwierig ist, etwas zu transportieren. Käme man in Afrika schnell von A nach B, würden pro Jahr bis zu vierzig Prozent mehr Umsätze erzielt, zeigten Studien der Weltbank. Genau der Ent-wicklungssprung, den Afrika brauchte, fand Ledgard. Seit zwei Jahren lebte er mittlerweile in der Schweiz. Seine Stelle beim Economist hatte er 2013 gekündigt, um sich der Entwicklung seiner Lösung zu widmen. Er wusste, Technologie wäre der Weg. Aber welche? In der Schweiz gab es hervorragende technische Universitäten, man sprach Französisch und lag in der gleichen Zeitzone wie Afrika. 2011 hatten ihn Architekten der ETH Zürich zu einem Vortrag über Äthiopien geladen.
Bald begann man, sich in der Schweiz um den mitreissenden Afrika-Erklärer Ledgard zu reissen. Irgendwann stand der vor Patrick Aebischer, dem Präsidenten der Eidgenössischen Technischen Hoch-schule Lausanne (EPFL), und präsentierte ihm seine These: Ein grosser technologischer Sprung in Afrika sei die wichtigste Aufgabe unserer Zeit. Der EPFL-Leiter sah die Chance, die besten Köpfe des Kontinents zu gewinnen. Er gab Ledgard Geld und Räume, um Ende 2013 in Lau-sanne ein kleines Zentrum für Wissensaustausch zu begründen: So ent-stand das Afrotech-Labor. Ledgard bekam Zugang zu einem ganzen Arsenal an Forschern. Menschen, die, wie er bald herausfinden sollte, Techniken entwickelten, für die sie noch nicht einmal Anwendungen bedacht hatten. Hier würde er seine Lösung finden, da war Ledgard sich sicher.Bald begann ihn die Robotik zu interessieren. Weil es in Afrika nur wenig Industrie gibt, konnten Roboter dort tendenziell kaum Jobs zer-stören, sondern eher zum Aufbau beitragen, schien ihm. Er kam ins Gespräch mit dem Robotikforscher Dario Floreano, dem Leiter des EPFL-Labors für Intelligente Systeme. Der erzählte ihm von Fortschrit-ten in der Drohnentechnologie. Drohnen, das seien eigentlich fliegende Roboter, erklärte Floreano. Kurz zuvor hatte der US-Logistik-Riese Ama-zon verkündet, künftig mittels Drohnen auszuliefern. Allerdings hielten viele die Ankündigung für einen Scherz, so weit schien die Technologie damals noch entfernt. Ledgard aber sah plötzlich die Parallele zum Mobilfunk. Drohnen könnten Afrika in globale Warenströme einbrin-gen – so wie Mobiltelefone den Somalier in die globale Kommunikation integriert hatten. Das war es! Noch hielten alle dieses Konzept für zu teuer und kompliziert, vor allem in Entwicklungsländern. Aber in Lausanne hatte Ledgard ja einige der weltweit besten Robotiker um sich herum. Seine Aufgabe sah er nun darin, den Forschern eine Richtung zu geben. Eine Vision, die Geschichte schreiben sollte.Im Netz postete er eilig sein Cargo-Drohnen-Manifest: «Bessere Nutzung der unteren Himmelsebene in einer Sharing-Wirtschaft». Der erste Satz: «Mein Ziel ist es, bis Mitte 2016 das erste Lastendrohnen-Netzwerk der Welt in Afrika zu erschaffen. Es soll etwa 80 Kilometer lang sein und verschiedene Städte und Dörfer verknüpfen ... Diese erste Strecke soll den Nutzen solcher Netzwerke für Afrika und darüber hinaus beweisen und helfen, Geld zu sammeln für weitere Verbindun-gen.» Statt Business-Plänen schrieb er Leitbilder für die Forscher, so spektakulär wie möglich.
2014 rief er mit dem Raketenmann Yves Rossy und der EPFL den Flying Donkey Challenge aus: Ein riesiges Preisgeld winkte jenem, der bis 2020 mit Drohnen eine Ladung von zwanzig Kilogramm um den Mount Kenya fliegen würde. Die Aktion sollte lokales Wissen und Drohnenbauer aus aller Welt zusammenbringen. Das Wort Esel für Drohnen verdankte Ledgard dem Bewohner einer Hüttensiedlung in Nordkenya. Als Led-gard ihm erklären wollte, was Frachtdrohnen seien, hatte dieser ge-antwortet: «Ah! Ihr wollt meinen Esel zum Fliegen bringen.» Ledgard erschien das genial. Drohne klang nach Krieg. Also musste er den fliegenden Lastenträgern ein neues Image geben. Ledgard war nicht der Erste, der Drohnen für zivile Ziele einsetzen wollte: Die Uno experimentierte bereits mit ihnen zur medizinischen Versorgung. Das US-Startup Matternet hatte bereits 2011 verkündet, in Malawi Medikamente mittels Drohnen verteilen zu wollen. Aber Led-gard verknüpfte Kreise, die vorher nicht zusammengekommen waren. Er wollte, wie zu Beginn des Internets, eine Militärtechnologie zum Nutzen der Menschheit verwenden, um damit ein neues Netzwerk auf-zubauen – und so das grösste wirtschaftliche Problem des ärmsten Kontinents zu lösen. «Noch dauert es ein paar Jahre, bis die Drohnen technisch so weit sind, dass sie derartige Lasten transportieren können», erklärt Ledgard dem Lord in dessen Schloss im Jahr 2014. Das sei nicht so einfach wie die ferngesteuerten Quadcopter aus dem Spielzeugladen. Vor allem die rechtliche Seite behindere das Vorankommen. Gesetzgeber müssten komplett neue Regeln entwerfen. Giganten von Google über DHL bis Amazon scheiterten seit Jahren in Testgebieten in den USA und Australien an rechtlichen Schwierigkeiten.
Die westlichen Lufträume sind dicht und straff reguliert. Autonome Flugkörper werfen viele Fragen auf. Wer haftet bei Abstürzen? In Kentucky blockiert derzeit ein Kläger Drohnen mit der kniffligen Frage, wie hoch sein Grundstückeigentum eigentlich reiche. Dürften Drohnen überhaupt sein Land überqueren? Wenn ja, ab welcher Höhe? Jetzt trumpfte Ledgard auf. Seine Lösung: Drohnennetzwerke würden in Afrika beginnen. Hier war der Himmel noch frei, hier liessen die Regierungen mit sich reden, wenn es um Investitionen ging. Er selber kannte manche Regierungschefs persönlich. Die frühen Lastendrohnen würden allerdings nur wenig tragen können. Doch auch dafür hatte Ledgard eine Idee. Die ersten Drohnennetzwerke müssten eine Geschichte liefern, bei der jeder verstünde, wie nützlich die neue Technik eigentlich sei. Dass es sich dabei um mehr als nur Spielzeug oder Militärgerät handle. Viele Menschen sterben, weil Blutkonserven nicht rechtzeitig ankommen, das hatte Ledgard einst von seiner Nachbarin in Nairobi, einer Ärztin, erfahren. Vor allem Mütter kommen bei der Geburt ums Leben. Das Drohnennetzwerk könnte als ein Liefersystem für Blutkonserven beginnen. Drohnen, die Babys ret-teten! Viel besser als Motorräder und Jeeps. Redline solle, so Ledgard, das humanitäre Drohnennetzwerk heissen, mit dem er 2016 starten wolle. Blueline, das Transportnetzwerk für grössere Lasten, würde seinem Plan nach etwa 2020 folgen.«Und wo komme ich ins Spiel?», fragt Foster. «Sie könnten die Knotenpunkte des neuen Netzwerks entwerfen. Die Orte, an denen Drohnen landen und starten. Wo sie beladen und gewartet werden. Die kleinsten und einfachsten Flughäfen, die über-haupt möglich sind. Ein ganz neuer Gebäudetyp: Drohnenflughäfen.» Ledgard hatte gewonnen. Foster sagte zu. Mit diesem Partner stan-den dem ehemaligen Reporter jetzt alle Türen offen. Knapp anderthalb Jahre später. Philipp Rösler tanzt im Festzelt des WEF in Kigali. Dem früheren deutschen Vizekanzler, Ex-Wirtschafts- und Gesundheitsminister Deutschlands klebt das Slim-Cut-Hemd am Kör-per. Lachend zieht er seine Gattin zur Bar, wo der Champagner strömt. Es ist warm hier heute Abend, am 12. Mai 2016, dem zweiten von drei Tagen des Weltwirtschaftsforums in Ruanda. Gute Laune ist angesagt. Die Veranstaltung läuft makellos. Über 1500 Wirtschaftsführer, Politiker und NGO-Vertreter hatten von ihren klimatisierten Shuttlebussen aus eine Stadt gesehen, die sauberer wirkte als das Heimatland des World Economic Forum, die Schweiz. Das WEF war Ledgards Glücksbringer. Vor anderthalb Jahren hatte Ledgard Ruandas Präsident Paul Kagame im Rahmen des WEF 2015 in Davos um eine Audienz gebeten. Das hügelige Seenland Ruanda misst etwa hundert auf hundert Kilometer, es ist kleiner als die Schweiz. Weil der ehrgeizige Präsident es in ein afrikanisches Singapur verwandeln will, fördert er alles, was nach Zukunft aussieht. Ledgard wiederum kannte Kagame aus den Zeiten beim Economist. Als er den Präsidenten in Davos um eine Minute Gehör bat, habe dieser ihn gefragt, ob er wieder über ihr gemeinsames Hobby Tennis sprechen wolle, erinnert sich Ledgard. Nein, habe er geantwortet. Wieder hatte er den Einstieg für seine Story gut vorbereitet: «Diesmal will ich darüber sprechen, was fliegende Roboter für Ihr Land tun könnten.»
Im September 2015 verkündete Ruanda eine Zusammenarbeit mit dem britischen Stararchitekten Norman Foster. Ziel: der Aufbau des ersten landesweiten Drohnennetzwerkes der Welt. Die Überraschung ging um die Welt. Wieder hatte Ledgard gewonnen. Sein Plan, die Vision zu verbreiten, lief blendend. Die letzte Hürde lag woanders. Noch am Mittag hatte in Kigali Rösler, mittlerweile CEO des WEF, die zentrale Diskussionsrunde im Zentrum der Stadt geleitet. Thema: Afrikas vierte industrielle Revolution. WEF-Gründer Klaus Schwab war per Videokonferenz zugeschaltet worden: «Wir haben uns hier versammelt, um die Lage Afrikas zu verbessern», hatte er gesagt. «Wir sind in der Mitte der vierten industriellen Revolution, und hier haben noch nicht einmal alle von der zweiten, der Elektrifizierung, oder der dritten, dem Internet, profitiert.»Präsident Kagame sass in der Mitte des Podiums, sprach davon, Glasfaserkabel verlegen zu lassen, um sein Land ans Netz anzuschlies-sen. Doch Akinwumi Ayodeji Adesina von der Afrikanischen Entwick-lungsbank hatte Zweifel am grossen Sprung nach vorn. Die USA hätten letztes Jahr 276 000 Patente angemeldet. Ganz Afrika zusammen 300. Rösler hatte sich entschlossen, einfach ein Dauerlächeln aufzusetzen. Er beendete das Panel mit liberalem Spiritualismus: «Lassen Sie uns unsere Träume und Visionen in Wahrheit verwandeln.» Nur Stunden später, am Festabend des WEF, spielt die Band Funk, und die Stimmung auf der erhöhten Tanzfläche in der Mitte des weit-läufigen Partyzeltes explodiert fast, als Kagame sich die Ehre gibt. Sanft in die Hände klatschend, steht der hagere Präsident des Gastgeberlandes auf dem Tanzboden, seine Protokollführer schauen ängstlich, als die Damen in Cocktailkleidern und die Herren in Jacketts vor ihm so heftig Limbo tanzen, dass der Boden anfängt, bedrohlich zu schwingen. Nach-her postieren sich eine Reihe WEF-Teilnehmerinnen im Kreis um eine Frau, die zeigt, wie twerking funktioniert: leicht in die Hocke, Hohlkreuz, Hintern schütteln. Die Party hier sei besser als beim grossen WEF in Davos, raunt ein Kenner.Ledgard steht am Rand. Zum Tanzen ist er nicht angereist. Er redet mit Günter Nooke, Angela Merkels Afrika-Beauftragtem. Nachdem «Foster + Partners» offiziell verkündet hatten, einen afrikanischen Drohnen-flughafen als erstes Projekt der neu gegründeten Norman-Foster-Stiftung zu unterstützen, und Ruanda seine Partnerschaft bekanntgegeben hatte, war die Sache ernst geworden. Ledgard hatte ein beeindruckendes Konsortium aufgebaut, eine Reihe führender Universitäten und Stiftungen, auch Unternehmen wie IBM. Das Projekt war immer grösser geworden.
Fosters Team hatte beachtliche Arbeit geleistet. Sein Entwurf stand in der Tradition jener Generation utopischer Weltenplaner, deren letzter und vielleicht grösster Vertreter er ist. Seine Drohnenflughäfen erinner-ten an Weinkeller, nur nach allen vier Seiten hin offen, und konnten lokal mit einfachen Methoden gefertigt werden. Nun ging es darum, Geld zu sammeln, um erste Droneports zu realisieren. Das wiederum hatte sich in der Realität als wesentlich schwieriger herausgestellt als geplant. Ledgard war gezwungen, die ganze Idee fortan als Geschäftsmodell zu vermarkten. Er stellte sich vor, dass Redline wie ein Flughafenbetreiber auftre-ten, Wartung und Lagerflächen anbieten könnte. Allerdings durften die Preise nicht zu hoch werden für lokale Verhältnisse. Zudem hatte sich die Entwicklung von Frachtdrohnen als äusserst kompliziert erwie-sen. Mittlerweile setzte Ledgard fast komplett darauf, dass eines Tages die Chinesen kommen würden – so wie sie Afrika mit Nokia-Kopien geflutet hatten. Die Investoren waren zögerlich. Die Gesamtkosten schätzte Ledgard auf acht bis zehn Millionen Dollar, noch aber fehlten Redline über fünf Millionen. Sobald Geld im Spiel war, hatten sich die Dinge verändert. Seit fast einem Jahr sprach Ledgard unermüdlich auf Konferenzen und bei Investoren vor. Immer wieder waren vielverspre-chende Geldgeber abgesprungen, darunter auch der Schweizer Unter-nehmer und Milliardär Ernesto Bertarelli. Ledgards Ziel am WEF war es, die fehlenden Unterstützer zu finden. Gleichzeitig wollte er den Zwängen und Profitinteressen der Wagniskapitalgeber irgendwie ent-kommen. Das Motto des diesjährigen WEF klang wie für Ledgard geschaffen: Connecting Africa’s Resources Through Digital Transformation. Am Ab-schlusstag würde er vor laufenden Kameras Redline in prominenter Runde vorstellen dürfen. Dass alles anders kommen würde, hatte sich am ersten Abend des dreitägigen WEF gezeigt. Begonnen hatte dieser Abend am Pool des luxuriösen Hotels Serena. Ledgard war umringt von Reportern von Time und Guardian, neben ihm stand der Künstler Olafur Eliasson, mit dem er in Äthiopien Freundschaft geschlossen hatte. Für Eliasson hat Ledgard beinahe übernatürliche Kräfte. Er sei eine Art Kompass, sagt der Künstler. Etwas verleihe seinen Ideen besondere An-ziehungskraft: «Sobald man mehr Zeit mit ihm verbringt, bekommt man das Gefühl, er sei mit einer tieferen Energiequelle verbunden.» Zu Led-gards Projekt hatte er mit der Idee eines Solarbausteins beigetragen, der die von Foster entworfenen eleganten Lehmkuppeln von innen beleuch-ten könnte. Noch während sie am Pool stehen, bekommt Ledgard den Hinweis, dass ein Investoren-Dinner im Restaurant «Che» stattfinde. Geladen hat Savannah Fund, ein Risikokapitalgeber, bekannt dafür, in besonders riskante Pläne zu investieren. Ledgard springt ins Taxi.
Das «Che» liegt auf einem Hügel Kigalis. Von der ausladenden Holzterrasse aus sieht man die Lichter der Stadt blinken. Innen sitzt eine kleine Runde rund um den langhaarigen Savannah-Chef Paul, der zu-frieden erzählt, wie er in den letzten Jahren auf vier Kontinenten 157 Unternehmen Anschubfinanzierungen gegeben habe. Bier fliesst, Häpp-chen werden gereicht. Ledgard lächelt, erklärt sein Projekt. Doch plötzlich ist er nicht mehr der Einzige, der sich vorgenommen hat, in Ruanda ein Drohnennetzwerk hochzuziehen. Am Dinner-Tisch sitzt der Amerikaner Will Hetzler, rote Haare, Ende zwanzig. «Zipline» steht auf seiner Visitenkarte, der Name seiner Firma. Hetzler spricht wenig; aber er muss auch nicht viel reden. Er wird an diesem Abend auch so wieder und wieder um seine Visitenkarte gebeten. Je öfter er gefragt wird, desto breiter wird sein Lächeln.Hetzlers Startup war erst vor wenigen Monaten im Land aufge-taucht. Eigentlich hatte sogar Ledgard ihn dazu inspiriert. Er war es gewesen, der Hetzler, diesen interessierten jungen Leiter eines Robotik-Startups aus San Francisco, an eine Redline-Präsentation im Juli 2015 im italienischen Bellagio eingeladen hatte. Ledgard hielt dort seine so oft gehaltene Rede, sprach vom Bluttransport, wie man der Bevölkerung helfen könne, von der einzigartigen Unterstützung durch die ruandische Regierung, die ermögliche, was sonst nirgendwo ging: freies Fliegen. Ruanda könne zum Startpunkt für eine wichtige Zukunftsindustrie werden, warb Ledgard. Hetzler hatte schon früher mit Drohnen experimentiert. Er kannte die enormen rechtlichen Widerstände in den entwickelten Ländern. Das Amazon-Drohnenteam wartete damals seit fast einem Jahr auf Geneh-migungen der amerikanischen Luftfahrtaufsicht. Notgedrungen flog man in Hallen. Ledgard mochte den ruhigen Hetzler, der jede Zahl aus dem Kopf heraus zu wissen schien. Er lud ihn ein, Ruanda kennenzulernen. Kaum angekommen, legten die Amerikaner los damit, ihr eigenes Drohnen-projekt einzuleiten. Der Boden war ja bereitet. «Jonathan ist ein grossartiger Mensch, der uns wahnsinnig geholfen hat! Er hat uns direkt bei der Regierung vorgestellt.» Hetzlers Partner Keller Rinaudo steht in einem der zahlreichen Meeting-Rooms auf dem Konferenzgelände.
Strahlend greift er sich einen weiteren Hähnchenspiess von einem kleinen Teller am Stehtisch. In seinem Team arbeiteten Leute von SpaceX, der Nasa und Google, darauf ist er stolz. «Wir kamen nach Ruanda und wollten Medikamente mit Drohnen verteilen. Die Gesundheitsministerin hat nur den Kopf geschüttelt und gesagt: Blut müsst ihr liefern.» Rinaudos Augen leuchten. Er trägt einen lockeren Dreitagebart. Nach seinem Studium in Harvard war er ein paar Jahre professioneller Kletterer. Dann gründete er seine Firma. Als sein Partner Will ihm von Ruanda erzählte, witterte er die Chance. Die letzten Monate habe Zipline in Ruanda laufend Feldversuche gemacht. Alles laufe wie am Schnür-chen. «Ich liebe Ruanda. Gestern erst haben wir uns mit einer App Essen in unsere WG in Kigali bestellt. Und das hat geklappt!» «Suchen Sie noch Investoren?», wagt ein Südafrikaner am Steh-tisch zu fragen. Für solche Momente ist das WEF gegründet worden. «Nein, danke», sagt Rinaudo, «wir sind vollfinanziert. Sequoia Ca-pital, Jerry Yang, der Yahoo-Gründer, und Paul Allen, der Microsoft-Gründer, sind bei uns drin.» Ah, nickt das Gegenüber beeindruckt. Die grössten Geldgeber des Silicon Valley finanzieren diesen netten jungen Mann. «Ich bin stolz darauf, dass wir Menschen helfen werden können», fährt Rinaudo routiniert fort. «Aber das alles wird sich auch lohnen. Wir sind ein profitorientiertes Unternehmen.» Gerade eben habe noch einmal die Stiftung des Paketdienstes UPS eine Million Anschub-Finan-zierung gegeben. Offiziell sei es ein karitatives Engagement. Rinaudo lächelt. Im Gegenzug wolle UPS Flugdaten. Warum, dürfe er nicht verraten, aber es sei offensichtlich: «Man muss sich die Situation der UPS vorstellen. Ihr wichtigster Kunde ist Amazon. Deren Paketverkehr hat UPS reich gemacht, ohne dass sie irgendetwas ent-wickeln mussten. Die funktionieren wie vor vierzig Jahren und beschäf-tigen auch keine Ingenieure, soweit ich weiss. Und dann sagt Amazon plötzlich: ‹Bald werden wir mit Drohnen ausliefern statt mit UPS.›»
Rinaudos Geschäftsmodell ist klar: Sein Startup sieht die Bluttrans-porte in Ruanda als Test für einen weltweiten Markt – milliardenschwer. Ledgards Geschäftsmodell hingegen ist ihm ein Rätsel: «Wir haben uns vorhin anderthalb Stunden unterhalten, und ich könnte nicht wie-derholen, wie er sich finanzieren will», sagt Rinaudo. Die beiden hatten im Hof des Forums gesessen, Ledgard hatte intensiv auf ihn eingeredet. Gegen den jungen Unternehmer hatte Ledgard gewirkt wie ein Uni-Professor.
Dann muss Rinaudo weiter. «Kommst du morgen zu unserer Ver-anstaltung? 14 Uhr, direkt nach dem WEF! Es gibt Big News.»Ledgard kämpft währenddessen wie ein Stier. Er ist überall. Sein All-Areas-Access-Pass lässt ihn sogar ins Herzstück des Forums: «The Village», ein Restaurant für ruhige Geschäftsessen in nobler Atmosphäre, stets bewacht von hübsch gekleideten jungen Frauen mit einem Karten-scanner, wie bei Flughafentüren. Immer wieder verschwindet er darin. Am letzten Tag des WEF, am Freitag, kommt Ledgard gerade noch rechtzeitig um 10 Uhr 30 an. Im Medienzentrum laufen bereits die Kameras, Journalisten aus aller Welt warten. Es ist Ledgards letzter grosser Auftritt. Dass Zipline nachher Neuigkeiten präsentieren wird, hat ihn überrascht. Ledgard hatte stets ein Netzwerk vorgeschlagen, das für alle da sein sollte. Zipline schien anderes vorzuhaben. Während er offen agierte, alle Fortschritte und Pläne kommunizierte, hatten die Amerikaner sich bedeckt gehalten. Sie hatten Geld – er keines. Es war ein Wettkampf zwischen zwei Modellen. Sie hatten ihn überholt, mehr oder minder mit seinen Ideen, so etwas würden sie wohl nachher verkünden. War er gescheitert und würde letztlich für seine Gutmütigkeit be-zahlen? Hatte er all das getan für ein paar kalifornische Unternehmer? Es gibt in sogenannten Netzwerkindustrien eine unerbittliche Regel, die viele für ein Naturgesetz der Ökonomie halten: The winner takes it all. Jener, der am schnellsten Nutzer sammelt, kriegt den ge-samten Profit einer Netzwerkindustrie. Egal, wie ausgereift der jewei-lige Ansatz ist. Genau deswegen starten so viele Firmen ihre Services gratis, noch bevor sie ihre Produkte perfektioniert haben. Constant Beta, nennt man das; Uber ist damit genauso erfolgreich geworden wie Airbnb. Zipline würde genauso vorgehen, schwante Ledgard. Sie waren ja von genau solchen Leuten finanziert. Sie würden die Ruander um die Finger wickeln, die Drohnen in deren Land testen – und sofort in lukrativere Märkte abzwitschern. Statt eines afrikanischen Wirt-schaftswunders wäre das Ergebnis seiner Bemühungen, dass Ruandas Drohnennetzwerk letzten Endes aussehen würde wie ein verlassener Tennisplatz. Punkt 10 Uhr 30 an diesem Freitag, dem 13. Mai 2016, läutet WEF-Sprecher Oliver Cann die Pressekonferenz ein. Ledgard ist nervös. Die Enttäuschung lähmt ihn. Was soll er sagen? Eigentlich wollte er sein Projekt vorstellen, dafür ist er hier. Er beschliesst durchzuhalten. Er schiebt sein Jackett zurecht, ändert seine Notizen, immer wieder, den Kopf gesenkt, während die anderen bereits sprechen.
Zuerst hält der bekannte US-Forscher Neil Gershenfeld eine mitreissen-de Rede darüber, wie die nächste industrielle Revolution Afrika verän-dern könnte. Ein perfekter Auftakt. Dann führt der Moderator Ledgard ein. «Ein grossartiger Schriftsteller, der übrigens auch ein Unternehmer ist. Ist das nicht ein bisschen Grössenwahn?» Alle Augen gehen auf Ledgard. Dessen Lider flackern.Presse aus aller Welt ist versammelt, Kameras laufen. Normaler-weise gewinnt Ledgard jedes Publikum. Hier nicht. Während er spricht, beginnt er zu realisieren, wie fremd er an diesem Ort ist. Er, der Mann, der ohne Business-Plan ans World Economic Forum kam. Die Leute, die die Firmen gründen, das wird ihm jetzt klar, das sind die anderen. Dann ist seine Redezeit vorbei. Die Journalisten stellen keine Fragen. Bald ist der Raum leer. Direkt nach seinem Auftritt piepst Ledgards Telefon. «Ah Phil! Ok, ich komme!» Vor dem Hotel Serena wartet der ruandische Minister für Jugend und Informationstechnologie. Jean-Philbert Nsengimana, ein bulliger kleiner 41-Jähriger, der früher für westliche Konzerne arbeitete und jetzt für Kagame die Drohnenprojekte in Ruanda beaufsichtigt. Seit Monaten arbeitet er mit Ledgard. «Jonathan! Alter Freund!» Er klopft Ledgard auf die Schulter. Der lächelt müde.«Warte, ich rufe den Fahrer.» Der schwarze Toyota SUV rauscht durch Kigali. «Wer wird da sein?», fragt Ledgard Nsengimana neben ihm auf dem Rücksitz. «Die Luftfahrtbehörde, das Militär, der Transportminister, die Gesundheits-ministerin, der Leiter der Universität, ich und die amerikanischen Be-rater, die wir angeheuert haben.»
Eine alles entscheidende Runde, das ist klar. Ein internes Treffen, hinter den Kulissen des WEF. Der kleine Meeting-Raum im sechsten Stock eines Hochhauses ist voll. Als Ledgard zu reden beginnt, schaut er in den Raum, sieht Minister, Militärs, Berater und eilig mitschreibende Assistenten. Es durchfährt ihn. Eigentlich ist er am Ziel. Es ist 2016, er ist wirklich in Afrika, und dieses Drohnennetzwerk wird heute beginnen. Zwar nicht sein Projekt, aber das der Amerikaner. Er muss nun, wo er die Chance hat, zum letzten Mal allein hinter den Kulissen zu wirken, dafür sor-gen, dass die Richtung stimmt. Seine eigentliche Aufgabe ist, diesem Netzwerk ein sinnvolles Ziel zu geben, nicht eine Firma zu führen, versteht Ledgard in diesem Augenblick. Die Unternehmer aus Kalifornien haben ihn mit seinem sorgfältig ausgetüftelten Plan einfach überholt. Eigentlich ist es ein Triumph. Sollen doch die Chinesen die Drohnen bauen und die Amerikaner oder irgendwer anders die Geschäfte führen. Hauptsache, alles findet hier in Afrika statt.
Er sammelt alle Kraft, schaut in die Runde, lässt die Drohnen starten, erzählt, wie Ruanda am Beginn einer neuen Ära stehe. «Das einzig Wichtige», sagt er, «ist, dass wir jetzt ein Netzwerk formen, das Afrika nützt. Dafür müsst ihr die Bedingungen schaffen.» Die Augen im Saal leuchten. «Sind wir bereit?», fragt Nsengimana in die Runde. Alles nickt. Zipline wird kein Monopol bekommen.Zwei Stunden später an diesem Freitag um 14 Uhr stehen Keller Rinaudo und Will Hetzler in Anzügen im Zipline-Festzelt in der Innen-stadt Kigalis. Es kommt, wie es kommen muss. Nsengimana und die Ge-sundheitsministerin Agnes Binagwaho nehmen auf der Bühne Platz. Daneben steht ein Modell der Zipline-Drohne. Ruanda, eröffnet Rinaudo, sei wunderbar, eine Startup-Nation. Hier habe man das Ziel erreicht. Dann startet Hetzler ein Video, unterlegt mit anschwellender Euphorie-musik. Es erzählt die Geschichte eines Netzwerkes, das den Rwandern Blut bringen soll. Des ersten landesweiten Drohnennetzwerks der Welt. Jonathans Geschichte, nur mit anderen Gesichtern. Hetzler verkündet den Start offizieller Testläufe. Ledgard sitzt in der ersten Reihe und lä-chelt. Irgendwie befreit.Im August, nur zwei Monate nach dem WEF-Treffen in Kigali, auf das Ledgard alle Hoffnungen gesetzt hat, verkündet Zipline den Abschluss erfolgreicher Gespräche mit dem Weissen Haus. Tests in Ruanda hätten ergeben, wie man in den USA die Voraussetzungen für ein Drohnennetzwerk schaffen könne. Unbemannte Luftfahrzeuge gibt es seit Jahrzehnten. Nun steht ihrem Durchbruch nichts mehr im Weg. Hinter all dem, auch wenn es wohl die Geschichtsbücher nie erzählen werden, steht ein Reporter, der sich vorgenommen hatte, Geschichte zu schreiben. Jonathan Ledgard hat die EPFL mittlerweile verlassen. Derzeit er-zählt er seine Story öfter in Shenzhen, China. Dort, wo man Drohnen baut. Die Dinge liegen jetzt nicht mehr in seiner Hand. Aber die Chinesen sollten die richtige Idee im Kopf haben, wofür sie die Geräte bauen.
Fosters Droneport ist derzeit an der Architekturbiennale in Venedig erstmals aufgebaut. Inklusive Bauanleitung. Ausreichend gross, um in allen Details kopiert zu werden.
So wie damals das Nokia 1110.
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Wer sich für Jonathan Ledgard interessiert: hier ein tolles Follow-Up im New Yorker 2019