Dass ein Supermarkt wie die Migros dazu aufruft, über sein Biersortiment abzustimmen, das ist vielleicht der Vorbote einer neuen Welt. Denn in Zukunft werden wir möglicherweise nicht nur bei Volksabstimmungen und Wahlen nach unserem Votum gefragt werden, sondern auch von unserem Detailhändler, unserer Bank, unserem Arbeitgeber, unseren Apps. Wir werden über Firmenstrategien, Personalentscheidungen, Produkte abstimmen – weil wir Teil der «Community» sind, der das Unternehmen gehört.
Das ist die Vision einer internationalen Bewegung, die sich unter dem Slogan «Exit to Community» zu sammeln beginnt. Die Idee: Nutzerinnen und Kunden sollen die Unternehmen lenken, deren Produkte sie verwenden, weil sie am besten wissen, was ihnen das Unternehmen liefern soll. Möglich wird die Mitbestimmung, indem man einfach das Eigentum an sie überträgt. Aus Konsumentinnen werden Entscheiderinnen.
Die Schweiz ist ein zentraler Ort für diese Bewegung. Fast kein Land hat mehr Genossenschaften und Genossenschaftsmitglieder. Die Idee hat hier nicht nur besonders viel Potential, sondern auch eine Geschichte, denn «Exit to Community» ist eine Strategie, die schon unsere Grosseltern kannten, wenn auch nicht unter diesem Namen.
Als im Jahr 1941 Gottlieb Duttweiler sein gerade einmal fünfzehn Jahre altes Start-up Migros an seine Kunden und Mitarbeiter verschenkte, war auch das ein Exit, eine Übergabe an die Migros-Gemeinde. Ab Januar 1941 wandelte Duttweiler seine Migros Basel AG in eine Genossenschaft um, im Anschluss daran auch die anderen AGs seines Konzerns. Dann verteilte er die Anteilsscheine mit einem Nennwert von je 30 Franken kostenlos an 75’ 540 eingetragene Kunden und Mitarbeiter. Ihnen gehörte fortan die Migros. Duttweiler war ein Pionier des «Exit to Community».
Das aktuellste Beispiel für diese Form der Geschäftsübertragung findet sich in Zürich, wo eine der bekanntesten Schweizer Digitalplattformen sich darauf vorbereitet, von ihren Nutzerinnen übernommen zu werden. Wemakeit (etwa: wir machen es möglich) ist die schweizweit führende Crowdfunding-Webseite. Beim Crowdfunding können sich viele kleine Geldgeber digital zusammenfinden, um ein Projekt mitzufinanzieren. Nutzer können auf Wemakeit Projekte vorschlagen, angeben, wieviel Geld sie dafür brauchen – und dann mittels der Webseite einen Massenversand ihres Vorschlags starten, um möglichst viele Unterstützerinnen zu erreichen.
«Ich war immer überzeugt», sagt Johannes Gees, einer der Gründer, «dass es neben dem amerikanischen auch einen regionalen Markt für Crowdfunding-Plattformen gibt. So wie es neben Ebay einen Markt für Ricardo und Tutti gibt, neben Paypal Platz für Twint ist.» Er behielt Recht. Fast zwei Drittel aller Wemakeit-Geldsammlungen seien erfolgreich, sagt das Unternehmen, 88 Millionen Franken Unterstützungsgelder seien so an über 5800 Projekte verteilt worden. Auf Wemakeit sammelt eine Band Geld für eine CD, eine Fussreflexzonenmasseurin für eine Ausbildung, es werben Magazinmacher und Umweltprojekte um Mini-Investments. Das Crowdfunding ist integraler Teil der wachsenden Schweizer «Creator Economy» – jener neuen Wirtschaft, die sich vornehmlich digital finanziert.
Die Gründung hat geklappt, das Geschäftsmodell ist ein voller Erfolg, man ist heute hierzulande Marktführer. Es war ein langer Weg, bis Gees sein Unternehmen zum Fliegen gebracht hatte, doch nun möchte er auch irgendwann wieder aussteigen. Doch der Ausstieg, merkte Gees, ist fast noch schwieriger als der Einstieg.
Der sogenannte Exit, also der Ausstieg, ist oft die grösste Frage für Start-up-Gründer. Gerade im Tech-Bereich läuft es oft nach diesem Muster: Eine Handvoll Gründerinnen trifft einen Investor, der kauft das Unternehmen, und jene, die es aufbauten, sind raus. Wer das Unternehmen führt? Wie es damit weitergeht? Nicht so wichtig.
Das störte Gees und sein Team, allesamt Freunde. «In der Regel verkaufen Gründer ihre Start-ups dem Meistbietenden, und das kommt nicht immer gut», sagt Gees. Im Ergebnis verlieren die Nutzer, um welche die Gründerinnen sich jahrelang gekümmert haben, oft wertvolle Services, Sicherheiten und Daten. Für seine Mitgründerin und die Mitinhaber war dieses Verkaufsmodell keine Option, sie hatten eine ganz andere Vorstellung. Gees: «Wir haben schon vor einigen Jahren entschieden, dass Wemakeit mal den Nutzern und den Mitarbeitenden gehören soll.»
«Wenn Menschen etwas gehört, kümmern sie sich darum.»
Johannes Gees, Gründungsmitglied von Wemakeit
Mit seinen ergrauenden Haaren und der hohen Stirn könnte man sich Johannes Gees gut in jeder Vorstandsbildergalerie vorstellen. Doch Gees, der früher Musiker und Konzeptkünstler war, trägt Badehose, das Treffen findet in der Zürcher Männerbadi statt. «Was mir am Marxismus immer gefallen hat, ist die Idee, dass den Arbeitenden die Produktionsmittel gehören sollen», sagt er. Die Arbeitenden von heute, das sei die Community, also die Angestellten und die Nutzer, doch diesen gehöre gar nichts. Verschenken wollte Gees aber auch nicht gleich alles.
Das ganze Gründerteam hatte viel in den Aufbau von Wemakeit gesteckt. Gees, Mitgründerin Rea Eggli und die anderen Aktionäre schätzten den Unternehmenswert auf 8,8 Millionen. Zudem wollten sie, dass das Unternehmen weitergeführt würde von Leuten, die ihre Vorstellungen teilen. Statt die Community zu verkaufen, beschlossen sie, an die Community zu verkaufen. «Exit to Community» also. «Wenn Menschen etwas gehört, kümmern sie sich darum», glaubt Gees.
Seit dem 31. Mai 2022 bietet nun Wemakeit eine Million Aktien zum Stückpreis von 8.40 Franken auf der eigenen Webseite an – statt an einer Börse. Bis zum 5. Juli soll die Verkaufsaktion dauern. Auf der Webseite nennt man das «Crowd Takeover», begleitet von bunten Bildern aus der Firmengeschichte. Mittels eines Knopfes, der zu Beginn der Aktion mit «Revolution» beschriftet war, kommt man zu den Kaufoptionen. Beispielsweise «1000 Aktien für 8400 CHF». Aktien shoppen wird wie online Schuhe kaufen.
Hinter dem lockeren Online-Aktienverkauf steckt eine Revolution. Sowohl eine technologische als auch eine rechtliche. Dazu muss man wissen, wie schwierig es bislang war, ein Unternehmen zu verkaufen. Wemakeit war eine Aktiengesellschaft mit sechs eingetragenen Partnern, die Namensaktien hielten, also Anteilsscheine mit Stimmrecht. Gees gehörte die Hälfte der AG. Viele Menschen denken bei dem Wort «Aktiengesellschaft» an Börsen und grossen Kapitalismus, aber das entspricht nicht der Realität. Die AG ist eine häufige Inhaberstruktur in der Schweiz.
Grafikbüros sind AGs, auch Schreinereien oder Restaurants. Es gibt etwa 120’000 eidgenössische Aktiengesellschaften, doch nur 250 werden an der Schweizer Börse gehandelt – und Wemakeit-Aktien gehören nicht dazu. Ohne Börse ist jedoch kein einfacher Aktienhandel möglich, das heisst, es ist kompliziert, Anteile zu kaufen und zu verkaufen. Bislang brauchte es dann beim Anteilsscheinverkauf schriftliche Abtretungserklärungen, mit Tinte unterzeichnet. In Gees’ Fall hätte das bedeutet, die Aktienverkäufe an die Nutzerinnen persönlich abzuwickeln und vielleicht Tausende Dokumente zu unterschreiben. Keine realistische Option.
Möglich wurde der digitale Verkauf erst durch eine 2021 in Kraft gesetzte Änderung des Obligationenrechts, die Einführung von Artikel 973d. Kurz gesagt, ermöglicht es diese Änderung, Aktien in digitaler Form auszugeben, als sogenannte Token, registriert auf einer Blockchain, einem digitalen Verzeichnis. Token sind als neuartige «Digitalaktien» online handelbar, ohne Bank, Börse oder einen mit Tinte unterzeichneten Vertrag. Per Klick.
Auf der Wemakeit-Webseite erklären die FAQ die Rechte, die man mit dem Kauf der Aktie erwirbt. Dazu gehören in erster Linie die Stimmrechte an der Generalversammlung, wo über die Verwendung des Gewinns entschieden wird und über die Besetzung des Verwaltungsrats, eine Art interne Aufsichtsbehörde für die Geschäftsführung. Selten bekommt man Aktienrecht so niederschwellig erklärt. Jede Aktie bedeutet ein Stimmrecht. Je mehr Aktien, also Token, desto mehr Einfluss hat man. In der ersten Woche wurden 97 Prozent aller Anteile verkauft. 30 Prozent der Einnahmen fliessen direkt ins Unternehmen.
Es gibt viele Unterschiede zwischen den Exits von Wemakeit und der Migros, aber der Kerngedanke, dass ein Unternehmen zuerst von Gründerinnen aufgebaut und dann an seine Nutzer übergeben wird, bleibt der gleiche. Und noch etwas ist ähnlich: der Wunsch und der Versuch der alten Eigentümer, dass die neuen Eigentümerinnen das Unternehmen im Geiste der Gründer weiterführen. Bei Wemakeit gab es dafür einen Vorverkauf für bisherige Nutzer – potenzielle Neueigentümer, die das Unternehmen wohl eher auf Linie halten würden.
Die Idee der Nutzergemeinschaft geht ins 19. Jahrhundert zurück. Im Jahr 1844 hatten arme Weber in der englischen Stadt Rochdale, angeregt vom Frühsozialisten Robert Owen, eine Einkaufsgenossenschaft gegründet, mit dem Ziel, Waren zum Einkaufspreis weiterzugeben. Einer ihrer Grundsätze war, keinen Alkohol zu verkaufen. Duttweiler liess sich davon inspirieren – und verfasste fünfzehn Thesen, um abzusichern, dass auch die Migros in seinem Sinne weitergeführt würde. Daraus resultierte das Alkoholverbot, das durch Abstimmungen formal beschlossen wurde.
Aus der komplizierten Struktur, die Duttweiler schuf, entstand über Jahrzehnte ein Zentralapparat, eine Hauptverwaltung in Zürich und eine parlamentartige Delegiertenversammlung der Genossenschafter. Aus dieser heraus erwuchs 2020 der Widerstand der inzwischen schweizweit bekannten Delegierten Renata Georg aus Fällanden gegen das Alkoholverbot. Online, so argumentierte sie, wurde Alkohol ja schon längst verkauft, genauso im Globus und in den Denner-Filialen, die einst der Migros gehörten. Die Statuten, die Duttweilers Willen festschreiben sollten, würden ausgehöhlt. Das störte Georg. Es wurde heftig hin und her debattiert, was eigentlich Duttweilers Wille sei. Dabei zeigte sich ein Bruch zwischen der Verwaltung, die fast einmütig für den Alkoholverkauf war, und der Basis, die landesweit wuchtig dagegen stimmte. Ein Konflikt zwischen Umsatzzielen und Moralvorstellungen.
Garantiert «Exit to Community» wirklich die Umsetzung des Gründerwillens? Ich habe das Nathan Schneider gefragt, der den Begriff «Exit to Community» geprägt hatte. Heute leitet der frühere Occupy-Aktivist das Media Enterprise Design Lab an der University of Colorado.
Er nennt eine Reihe aktueller Community-Exit-Beispiele, vom milliardenschweren Biotech-Unternehmen Ginkgo Bioworks bis zur von den Redaktoren gehaltenen Sportnachrichtenseite «Defector». Es gebe keine Belege für die Überlegenheit von Gemeinschaftseigentum, schreibt Schneider. Die stärkere Rechenschaftspflicht biete zwar eine vergleichsweise bessere Ausgangslage, aber keine messbar bessere Rendite: «Gemeinsames Eigentum ist keine Garantie für Vollkommenheit, aber es schafft die Möglichkeit, eine gesündere Form von Innovation zu entwickeln.» Gemeinschaften könnten sich für eigene Unternehmensziele entscheiden. Für Qualität oder Sozialleistungen statt nur für Profit. Die Migros-Abstimmung begeistert ihn: «Dass eine solche Entscheidung das Votum der Verbraucher erfordert, das ist schon moralisch ein Wert an sich.»
Es geht aber nicht nur um die Moral. «Exit to Community» kann auch eine freundlich verpackte Möglichkeit sein für ausstiegswillige Gründer, der ultraharten Buchprüfung durch profesionelle Investoren zu entgehen. Wemakeits digitale Kleinanleger sollten genauso hart nachfragen.
Vielleicht ist der Gemeinschafts-Exit der nächste Schritt in der Evolution des Kapitalismus: dass uns Kunden nun auch noch die Pflichten des Eigentümers übertragen werden, nachdem wir lernen durften, wie man sich selbst eine Reise bucht, selbst seine Bankgeschäfte tätigt, sich selbst im Supermarkt abkassiert. Nicht: «L’état c’est moi», sondern: «Das Unternehmen bin ich.» Die vorerst radikalste Form des Kapitalismus erinnert an den Kommunismus.