November 27, 2021

Die Menschheit schrumpft

Warum wir uns in Zukunft um Migrantinnen und Migranten reissen werden, und wieso Ferienhäuser in Italien an Wert verlieren.

Heute hat die Schweiz mehr Bewohner denn je: 8,6 Millionen zählt das Bundesamt für Statistik. Im Jahr 2050 sollen es je nach Szenario zwischen 9,5 und 11,4 Millionen Einwohner sein. Das liegt aber nicht etwa an einem Kinderboom. Im Gegenteil. Die Schweiz wächst wegen der Einwanderung – aber vor allem, weil die Menschen immer länger leben.


Während wir häufig von «Bevölkerungsexplosion» oder «Überbevölkerung» lesen, verhält es sich tatsächlich genau umgekehrt: Nirgendwo steigen die Fertilitätsraten langfristig an. Abgesehen von kürzeren Schwankungen sind sie über die letzten drei Jahrzehnte in fast allen Ländern gesunken. Das führt dazu, dass ab irgendwann zwischen den Jahren 2035 und 2065 weniger Kinder zur Welt kommen werden, als die Menschheit zur Aufrechterhaltung ihrer Bevölkerungszahl benötigen würde. Die globale Fertilitätsrate wird dann erstmals unter 2,1 Kinder pro Frau sinken. Das wiederum wird mit ein paar Jahrzehnten Verzögerung – abhängig von der künftigen Lebenserwartung – zu einem Rückgang der Weltbevölkerung führen.


Die Fertilitätsrate ist die Anzahl Kinder – pro Frau, und nicht zu verwechseln mit der Geburtenzahl, der absoluten Zahl von Geburten. Die Zahl 2,1 ist eine magische Nummer für Demografen: Auf den ersten Blick müsste jedes Elternpaar zwei Kinder bekommen, um die Bevölkerungszahl langfristig zu erhalten. Doch rechnet man die Kindersterblichkeit hinzu, kommt man global auf den Selbsterhaltungswert 2,1 – das sogenannte «Ersatzniveau der Fertilität». Es gibt also drei Zahlen, die man voneinander unterscheiden muss: die Bevölkerungszahl, die Fertilitätsrate und der Selbsterhaltungswert.


Unter den wohlhabenden OECDLändern ist Israel die Ausnahme: das einzige Land mit einer Fertilitätsrate, die über dem Selbsterhaltungswert liegt – das gibt es sonst nur in Entwicklungs- und Schwellenländern. Was Israel aber weltweit zur grossen Ausnahme machen könnte: Über die letzten dreissig Jahre stieg die Fertilitätsrate sogar, von 2,7 Kindern pro Frau auf 3,1. Allerdings ist sie statistisch nicht so einfach zu berechnen, unterliegt ständigen Schwankungen und Ungenauigkeiten. Andere Forscher sehen Israels Fertilitätsrate im Jahr 2020 bei 2,9 – so oder so wird Israel vielleicht einmal das einzige Land mit steigenden Fertilitätsraten überhaupt. Von einer heutigen Bewohnerzahl ähnlich der Schweiz (8,6 Millionen) könnte es bis zum Jahr 2100 auf 24 Millionen Einwohner kommen.


Weil überall sonst auf der Welt die Fertilitätsraten, wie hoch sie auch sein mögen, seit Jahren sinken, wird in den meisten «entwickelten» Ländern innerhalb weniger Jahre, oder wie in Subsahara-Afrika innerhalb mehrerer Jahrzehnte, auch die Bevölkerungszahl zu sinken beginnen. In manchen Ländern sinkt sie bereits heute.
Daher weicht gerade die Furcht vor der angeblich drohenden «Bevölkerungsexplosion» bei manchen Demografen der gegenteiligen Sorge:
«Ein leerer Planet», sagt Darrell Bricker. «Ein nicht mehr endendes Schrumpfen der Weltbevölkerung.»


Bricker ist Statistiker und CEO des weltweit tätigen Meinungsforschungsinstituts Ipsos Public Affairs. Sein neuestes Buch heisst «Empty Planet» (deutsch: «Der leere Planet»), verfasst hat er es gemeinsam mit dem Journalisten John Ibbitson.


Eigentlich ist das Buch eine Abrechnung mit der UNO. Genauer: mit ihren offiziellen Bevölkerungsstatistiken. Es beginnt mit einer Erkenntnis: Die wichtigste Prognose zum weltweiten Bevölkerungswachstum ist wohl zu hoch.


«Gegen Ende dieses Jahrhunderts werden nicht über 11 Milliarden Menschen auf der Erde sein – sondern vielleicht sogar weniger Menschen auf der Erde leben als heute», sagt Bricker. Heute sind es 7,9 Milliarden.


Für Bricker ist das der wohl fundamentalste Wandel in der Geschichte der Menschheit: Der Aufstieg als Spezies, gemessen rein an ihrer anhaltenden zahlenmässigen Zunahme, geht zu Ende. Und die Wenigsten haben es mitbekommen.


Auf das Thema gestossen war Bricker, als er über ein Interview stolperte, in dem ein ihm damals völlig unbekannter Wiener Demograf namens Wolfgang Lutz darlegte, warum die für alle Regierungen weltweit massgeblichen UNO-Statistiken das bevorstehende Bevölkerungswachstum seiner Meinung nach bei weitem überschätzten.
Bricker staunte. Er hatte früher für die kanadische Regierung gearbeitet und wusste: Bevölkerungszahlen sind der Kompass einer Regierung. Sie sind wichtig für Innenpolitik wie Aussenpolitik. Von ihnen hängt ab, wo wann welche Schulen, Krankenhäuser und Strassen gebaut werden; ob die Steuern steigen; Läden aufgehen oder Grenzzäune hochgezogen werden. Aussenpolitiker brauchen sie, um zu verstehen, wo es geopolitisch Spannungen geben könnte.


Eine massgebliche Quelle, auf die sich weltweit Politiker, Planer, Verwaltungen und Manager beziehen, sind bis heute die Prognosen der UNO. «Ich kannte diese Zahlen von so vielen Veranstaltungen. Wenn auf internationalen Konferenzen diskutiert wurde, dann zitierten alle diese Zahlen», erinnert sich Bricker. Nun las er, dass genau diese Zahlen falsch seien. Die Weltbevölkerung werde erstens schon viel früher ihren Hochpunkt erreichen, als die UNO prognostizierte; zweitens werde das Bevölkerungsmaximum viel niedriger liegen als die 11 Milliarden Menschen, die die UNO für 2100 vorhersagt; und drittens werde die Bevölkerung danach viel schneller abnehmen als vorhergesagt.


Wie wohl die meisten Menschen der westlichen Welt ist Bricker mit Leitideen vom ewigen Wachstum aufgewachsen, und der impliziten Angst vor Überbevölkerung. In Thomas Robert Malthus’ «An Essay on the Principle of Population» vor über zwei Jahrhunderten erstmals formuliert, hatte die Angst vor Überbevölkerung im Zeitalter der Babyboomer ein Revival erfahren. Nicht nur in Bestsellern wie dem von Anne und Paul Ehrlich 1968 veröffentlichten Buch «The Population Bomb» (deutsch: «Die Bevölkerungsbombe»). Wie etabliert diese Sichtweise war, zeigt sich beispielsweise an der 1970 verfassten Laudatio auf den damaligen Nobelpreisträger Norman Borlaug, den «Vater der grünen Revolution», der half, die Nahrungsmittelproduktion massiv zu erhöhen: «Die Welt schwankt zwischen der Furcht vor zwei Katastrophen – der Bevölkerungsexplosion und der Atombombe. Beide stellen eine tödliche Bedrohung dar.»


Daraus entwickelten sich rechte wie linke Überbevölkerungswarner. Den einen ging es um Migration, den anderen um Ökosysteme. Darrell Bricker aber fragte sich nun das Gegenteil: Wie schlimm wird es, wenn wir tatsächlich weniger werden? Es war, als hätte sich der Nordstern verschoben.


Was würde es eigentlich für den Kapitalismus, das auf Wachstum angelegte Wirtschaftssystem, bedeuten, wenn die historisch oft wichtigste Säule des Wirtschaftswachstums, nämlich das Bevölkerungswachstum, sich ins Negative kehren würde?


Was würde es für politische Ideologien bedeuten: Brauchte nun niemand sich zu sorgen vor einer sich endlos vermehrenden Menschheit, die den Planeten unaufhaltbar verschlingen würden? «Einwandererfluten» – einfach abgesagt?


Was würde es für seine Heimat bedeuten? «Kanada hängt stark von der Zuwanderung ab», erklärt Bricker. Wie kein anderes Land der Welt versuche man Zuwanderung gezielt zu fördern.


Bricker begann nachzuforschen, sich einzuarbeiten. Er lernte, dass Lutz kein Aussenseiter war, sondern einer der weltweit anerkanntesten Bevölkerungsexperten. Dass mittlerweile eine wachsende Zahl von Forschern zum Schluss kam, dass die Weltbevölkerung im Verlauf unseres Jahrhunderts eben nicht von rund sieben auf über elf Milliarden ansteigen werde, bevor sie dann eventuell stagniere.


Lutz ging davon aus, dass der Bevölkerungshöhepunkt zwischen 2060 und 2070 erreicht sein werde, aber es gab auch Forscher, die das Bevölkerungsmaximum schon zwischen 2040 und 2060 bei etwa 9 Milliarden Menschen stagnieren sahen. Bricker war fasziniert. Er wollte dem nachgehen.


«Ich bin kein Demograf», sagt Bricker, er ist Statistiker. Demografie sei ein schwieriges Feld. Die Entwicklung der Bevölkerungszahl resultiert aus Geburten und Todesfällen sowie der Nettozuwanderung. Diese Faktoren wiederum sind das Ergebnis vieler Einflüsse. Kindersterblichkeit, Gesundheitssystem, statistische Zählmethoden für Einwanderung.


«In eher wohlhabenden, technisch entwickelten, älteren Gesellschaften», sagt Bricker, «resultiert Bevölkerungswachstum nicht aus Geburten – sondern aus der steigenden Lebenserwartung: Die Leute sterben nicht.» Das wiederum verändert natürlich die Altersstruktur der Bevölkerung. Der Anteil der Frauen, die noch Babys bekommen können, sinkt. Zwei vorderhand gleich grosse Länder wie Israel und die Schweiz können so völlig andere Wachstumsverläufe haben.


Sogar Mietpreise hätten einen Einfluss auf die Fertilitätsrate: «Wenn Wohnungspreise steigen, bleiben mehr Menschen im zeugungsfähigen Alter bei ihren Eltern. Das lässt weniger Zeit, um ungestört Nachwuchs zu zeugen. Sie bekommen weniger Kinder.»


Viele solcher Feinheiten können in Statistiken untergehen, das verstand Bricker als pollster, als einer, dessen täglicher Beruf darin besteht, Stimmungslagen und Absichten von Menschen zu erheben. Und genau das unternahmen nun Bricker und sein Schreibpartner Ibbitson, der Journalist, für ihr Buch. Sie hinterfragten die Statistiken – indem sie direkt zu den Menschen gingen. Und zwar zu vielen Menschen, rund um die Welt. Sie fragten Frauen in sechsundzwanzig Ländern, wie viele Kinder sie haben wollten.


Ibbitson und Bricker reisten dafür von Toronto nach Brüssel, Seoul, Beijing, Wien, gingen in die Slums und Hochhäuser von Mumbai, São Paolo, Canberra und Nairobi. Ob in Unis oder Favelas, sie stellten ihre eine Frage. Und die Antwort war immer gleich: etwa zwei. Brickers und Ibbitsons Ergebnis lag noch tiefer, als es selbst die niedrigsten Schätzungen zum Bevölkerungswachstum vorhersagten. Daher nannten sie ihr Buch «Empty Planet».


Zusammenfassend kann man eine Handvoll interessanter Schlüsse ziehen aus den Arbeiten von Wolfgang Lutz sowie Brickers und Ibbitsons Recherchen, und auch aus den Forschungsergebnissen eines Teams der Universität Washington in Seattle, rund um den US-Star-Demografen Christofer J. L. Murray. Mit allen dreien haben wir für diesen Text gesprochen.


1. Wir knacken sicher die neun Milliarden
...es sei denn, es kommt zu einer Katastrophe unvorhersehbaren Ausmasses. Ansonsten wird die Menschheit die nächsten 30 Jahre global gesehen weiter wachsen. «Bis 2050 sind alle Schätzungen ziemlich ähnlich», fasst Wolfgang Lutz zusammen. «Danach aber sind die Unterschiede gross.» Die UNO sieht eine weitere Bevölkerungszunahme bis auf knapp 11 Milliarden zur Jahrhundertwende 2100, Lutz prognostiziert eine beginnende Abnahme kurz nach 2060, sein Hochpunkt liegt bei einer Weltbevölkerung von 9,4 Milliarden. Für Demografen seien die nächsten Jahrzehnte eigentlich schon «eingebacken», erklärt er. Man weiss, wie viele Frauen es gibt, wann ungefähr sie wie viele Kinder bekommen. Weil aber schon geringe Schwankungen der Fertilitätsrate auf lange Frist eine grosse Wirkung auf die Bevölkerungszahl entfalten können, gibt es oft beachtliche Spannbreiten in einzelnen Schätzungen. Die Sektion Demografie und Migration am Bundesamt für Statistik schätzt so die Bevölkerung der Schweiz für das Jahr 2050 je nach Szenario zwischen 9,5 und 11,4 Millionen (nicht Milliarden!) ein. Wir sind damit exakt ein Promille der Weltbevölkerung. Ob wir aber lokal eine Million oder drei Millionen mehr Einwohner haben als heute, ist ein Riesenunterschied. Und auch, wer die Kinder bekommt. In Israel beispielsweise sind es vor allem die Ultraorthodoxen. Das wird das Land verändern. Interessanter als globale, sind also regionale Entwicklungen. Das führt uns zu Punkt zwei.


2. Gratis Ferienhäuser
Wer von einem Ferienhaus träumt, der muss wohl nur ein bisschen warten, bis er es geschenkt bekommt. Und zwar in Italien. Es ist kein Zufall, dass man in den letzten Jahren immer wieder von italienischen 1-Euro-Häusern las. Der Grund ist ganz einfach: Die Italiener sterben allmählich aus. Italien hat im Jahr 2017 sein Bevölkerungsmaximum von etwa 60 Millionen Einwohnern überschritten und könnte bis zum Ende des Jahrhunderts auf die Hälfte fallen. Mittlerweile gibt es sogar schon erste Kommunen, die Hauskäufern Geld zahlen. Irgendwann dreht es sich nur noch darum, den Verfall zu verhindern. In Italien hat wie in vielen anderen geburtenschwachen Ländern ein selbstverstärkender Effekt eingesetzt. Wenn fast niemand mehr Kinder bekommt, normalisiert sich dieser Zustand, und immer weniger Menschen werden Eltern. Fast genauso sehe es in Spanien, Portugal und Griechenland aus, schätzt das Forscherteam um Chris Murray: Auch dort wird sich bis 2100 die Bevölkerung halbieren. Und auch in osteuropäischen Ländern von Ungarn bis Estland oder in Balkanstaaten wie Serbien schrumpft die Bevölkerung.


3. Unsere Kinder werden sich vor Jobangeboten nicht retten können
Es braucht kein Wirtschaftswunder, damit die kommende Generation, die etwa ab dem Jahr 2040 in der Schweiz ins Berufsleben eintritt, sich fühlt wie jene vom Glück verwöhnte Boomergeneration, die kaum je Bewerbungen schreiben musste. Bleibt die Wirtschaftsleistung wie heute, oder wächst sie im aktuellen Tempo, wird die Nachfrage nach Arbeitskräften bleiben, oder sogar wachsen. Da der Anteil junger Menschen an der Bevölkerung sinkt (heute kommen in der Schweiz auf hundert Personen zwischen zwanzig und vierundsechzig Jahren etwa dreissig Senioren über fünfundsechzig Jahren – im Jahr 2050 werden es fast fünfzig Prozent mehr sein, also rund fünfundvierzig Senioren) – werden sie auf dem Arbeitsmarkt gefragt sein. Und zwar in allen westlichen und vielen asiatischen Ländern (von Korea über China bis Japan), weil allesamt eine ähnliche Bevölkerungsentwicklung erleben. Dies dürfte die Löhne steigen lassen. Gleichzeitig müssen die Pensionen finanziert werden. Der technische Fortschritt im Gesundheitssystem wird entscheiden, wie viel der kommenden Generation am Ende vom Lohn übrig bleibt, denn nicht nur die Zahl der Senioren, sondern vor allem die der Hochbetagten – deren medizinische Versorgung viel teurer ist – wird stark zunehmen. Es winkt: viel Arbeit und wenig Profit. Falls die Wirtschaft einbräche, bliebe nur eine Lösung: ein radikaler Umverteilungsprozess, um zu versuchen, sowohl die älteren wie auch die jüngeren Generationen zu versorgen.


4. Werde wie Kanada oder stirb aus
«Sobald die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer gealtert sind und langsam aussterben, hängt das Bevölkerungswachstum somit fast ausschliesslich von der Migration ab», schreibt Raymond Kohli von der Sektion Demografie und Migration im Bundesamt für Statistik kürzlich in einem Artikel. Darrell Brickers Vorschlag: Werde wie Kanada. Kanada, die Heimat Brickers, wächst dank laufend starker Einwanderung. Als Bricker sein Buch verfasste, hatte Kanada 35,2 Millionen Einwohner, heute, fünf Jahre später, sind es laut Statistikbehörde 38,2 Millionen – und es gibt sogar eine Bewegung, um bis zum Jahr 2100 auf 100 Millionen Einwohner anzuwachsen. Kanada wächst – während fast der komplette Rest der entwickelten Welt an Bevölkerung verliert. Kanada nehme pro Jahr etwa 300’000 Einwanderer auf, das Ziel sei rund ein Prozent Bevölkerungswachstum pro Jahr allein durch Immigration zu erzielen. Bricker findet das gut. Die Hälfte der Bevölkerung Torontos sei im Ausland geboren – gleichzeitig sei es friedlich und alles funktioniere. Das liege auch daran, dass Kanada sich aussuche, wen man ins Land lasse. Der Begriff Immigrant sei in Kanada anders belegt. Einwanderer sind dort meist besser ausgebildet als Einheimische – während man in Europa Immigranten oft mit Geflüchteten assoziiere. Kanada locke Einwanderer aus ganz eigennützigen Gründen ins Land, schreiben Bricker und Ibbitson, daher funktioniere Immigration auch besser als beispielsweise in Schweden. «Jede Nation in Europa und Asien mit einer Fertilitätsrate unter der Nettoreproduktionsrate hat eine einfache Wahl: Werde wie Kanada oder gehe ein.» Demografen sind sich einig: Das am Besten steuerbare Mittel um die Bevölkerungszahl zu erhöhen, ist die Zuwanderung. Allerdings ist das wiederum abhängig von der geografischen Lage.


5. China schrumpft (bald) – der Machtkampf mit den USA wird andauern
Die Wirtschaft braucht Konsumenten wie Kriege Soldaten. Da die geopolitische Macht eines Landes meist eine Kombination aus wirtschaftlicher und militärischer Stärke darstellt, beide Faktoren aber wiederum von der Bevölkerungszahl abhängen, ergibt sich, dass China die USA auf lange Sicht nicht so einfach wirtschaftlich überholen wird. Im Gegenteil. Die Bevölkerung Festlandchinas wird wohl ab etwa 2025 sinken, vielleicht ist sie bereits jetzt am Sinken.
Aufgrund der früheren Ein-Kind-Politik folgen auf die geburtenstarken Jahrgänge wesentlich weniger Menschen, eine rapide gesellschaftliche Alterung setzt ein, der Anteil der Menschen, die nicht mehr arbeiten, wird sehr schnell relativ stark ansteigen.
Wolfgang Lutz schätzt die reale Fertilitätsrate auf aktuell etwa 1,1 Kinder pro Frau, entgegen der UNO-Schätzungen, die langfristig von etwa 1,76 Kindern pro Frau ausgehen. Murrays Team hat die Folgen der Kinderlosigkeit für den wirtschaftlichen Aufstieg Festlandchinas berechnet, und eine Top 25 der grössten Wirtschaftsnationen nach deren Bruttosozialprodukt aufgestellt. Wie viele Experten erwarten sie, dass die Volksrepublik China kurz nach dem Jahr 2030 zur weltweit grössten Wirtschaft wird – doch dann wieder von den USA abgelöst wird. Denn die arbeitsfähige US-Bevölkerung wächst dank Einwanderung geburtenreicher Gruppen – und falls sie fallen sollte, dann relativ gesehen weniger stark als jene Chinas.
Wieder ist Immigration entscheidend, denn die Fertilitätsrate der USA liegt aktuell bei 1,78 – also unter der Nettoreproduktionsrate. Ohne Einwanderung würden die USA schrumpfen. Falls China daher künftig auch auf Zuwanderung setzen würde, stellt sich die Frage, aus welchen Regionen der Welt. Und was diese Einwanderung dann politisch bedeuten würde – innerhalb von China und international. Könnte ein Wettkampf um die besten Köpfe des noch jungen Subsahara-Afrikas entstehen? Und wie würde sich Chinas Gesellschaft innerlich verändern, wenn sie diverser werden würde? Heute werden dort Minderheiten wie die Uiguren brutal unterdrückt, viele werden als Zwangsarbeiter in Lagern gefangen gehalten. Natürlich ist eine derart langfristige Perspektive schwierig. Das Schweizerische Bundesamt für Statistik macht daher keine Bevölkerungsprognosen für mehr als fünfzig Jahre in die Zukunft, also aktuell etwa bis 2070. Dennoch: Wir steuern auf eine langfristig bipolare Geopolitik zu.


6. Frauen, aufgepasst!
Was den grossen Unterschied ausmacht zwischen den Prognosen von Wolfgang Lutz und jenen der UNO ist, dass Lutz das Bildungsniveau von Frauen als ausschlaggebend für die Bevölkerungsentwicklung identifiziert hat. Die UNO bezieht das steigende Bildungsniveau der Frauen nicht in ihre Berechnungen ein. Je gebildeter Frauen sind, so Lutz, desto besser ihre Berufschancen, desto weniger Kinder wünschen sie sich. Darrell Bricker betont die Rolle der Verstädterung: Weltweit sind Frauen in Städten im Schnitt gebildeter und haben noch mehr berufliche Optionen. Gleichzeitig ist Kinderbetreuung dort teuer und kompliziert. Was die Geburtenzahlen weiter sinken lässt. Chris Murray ist besorgt, dass diese Entwicklungen Frauenrechte bedrohen könnten. Weil sich für nationalistisch gesinnte Politiker die Macht eines Landes oft an der Bevölkerungsgrösse messe, könnten Regierungen «zu eine Verschlechterung der Lage der Frauen beitragen», sagt Murray. Frauen also den Zugang zu Bildung und Familienplanungsmethoden verweigern oder die Kinderbetreuung erschweren.


7. Corona statt Verhütung
Statt eines Babybooms habe die Pandemie wohl zu noch weniger Geburten geführt, meint Wolfgang Lutz, zumindest in der westlichen Welt. Der Grund sei einfach: die unsicheren Zukunftsaussichten, die eine Krise mit sich bringe. «Die Menschen verschieben das Kinderkriegen – bis sie letztlich kein Kind bekommen», sagt er. Ähnliches habe sich schon im Nachgang nach dem Finanzcrash von 2008 gezeigt. Erste Zahlen bestätigen seine Einschätzung: In den USA sollen 2021 mindesten 300’000 Babys weniger geboren werden, schätzt das Brookings Institut. In Australien schrumpfte erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg die Bevölkerung – und Brickers Heimat Kanada liess statt 380’000 Einwanderern gerade einmal 180’000 ins Land. Anders aber sehe es in Entwicklungsländern aus. Dorthabe die Pandemie Mädchen und Frauen aus der Schullaufbahn geworfen. Was mittelfristig zu höheren Fertilitätsraten führen könnte.


8. Und der afrikanische Kontinent?
Klar ist für alle Demografen und auch Bricker, dass der Kontinent Afrika bevölkerungsmässig alle anderen Regionen der Welt überrunden wird. Im Jahr 2019 prognostizierte die UNO gar einen Anstieg der afrikanischen Bevölkerung auf über vier Milliarden Menschen bis im Jahr 2100 – mehr als Indien, China, die USA und Europa zusammen. Nigeria wird mit grosser Sicherheit zu einem der bevölkerungsund wirtschaftsstärksten Ländern der Welt aufsteigen. Ob das lokale Bevölkerungswachstumzueiner Verschlechterung oder einer Verbesserung der materiellen Situation in Subsahara-Afrika führt, hängt davon ab, wie schnell dieser Anstieg passiert: wie also die Bevölkerungskurve im Detail verläuft. Im besten Fall könnte das Wachstum zu einem starken Anstieg der erwerbsfähigen Bevölkerung führen und somit zum Aufbau einer grossen wirtschaftlichen Kraft beitragen. Andererseits schwierig wäre ein zu rascher Bevölkerungsanstieg, falls also die Geburtenzahlen langsamer abnähmen, und eine kleinere Erwerbsbevölkerung eine überwältigend grosse Zahl an Menschen versorgen müsste, Junge wie Alte.


9. Jokerkarten
Was in den obigen Prognosen komplett aussen vor gelassen wurde, ist der Effekt des Klimawandels. Dieser ist schwer vorhersehbar, wirkt lokal sehr unterschiedlich – und ist oft unberechenbar, wie die Katastrophen im Sommer zeigten. Ähnlich schwer vorhersehbar sind globale Grossereignisse wie die jüngste Pandemie.
Die grosse Unbekannte für Demografen sind langfristige Entwicklungen bei den Fertilitätsraten, nachdem sie einmal unter die Selbsterhaltungsrate von 2,1 Kindern pro Frau gesunken sind.

Die UNO hat eine einfache Annahme getroffen: Langfristig pendelt sie sich stets bei etwa 1,7 Kindern pro Frau ein. In Realität trifft das nicht zu. Zahlreiche von rasch kollabierenden Fertilitätsraten betroffene Länder haben versucht, mit günstigen Schul- und Betreuungsmöglichkeiten und kreativen Fördermassnahmen (Singapur gab Tipps für versteckt gelegene Parkplätze), die Anzahl der Kinder pro Frau sogar wieder anzuheben. Doch beispielsweise in Taiwan und Singapur wirkten selbst starke Fördermassnahmen wenig. Die Fertilitätsraten liegen dort unter 1,3 Kinder pro Frau. In Schweden und Frankreich allerdings konnten Fördermassnahmen wohl Erfolge erzielen, die beiden Länder haben mit die höchsten Fertilitätsraten Europas, obwohl die Zahlen auch dort seit einigen Jahren wieder am sinken sind (von 1,98 und 2,02 in 2010 auf 1,66 respektive 1,84 in 2020).

Die Digitalisierung wird sich auf viele Bereiche auswirken. Während uns neue technische Hilfsmittel–von Drohnen bis künstlicher Intelligenz – produktiver werden lassen, könnte dank der digitalen Jobauslagerung ins Homeoffice ein guter Teil der hochqualifizierten Arbeitskräfte künftig aus der ganzen Welt rekrutiert werden – was Löhne senkt. Steuersysteme werden daran angepasst werden müssen. Manche fürchten, dass zunehmende Digitalisierung Stellen vernichten wird, allerdings hat sich das insgesamt noch nicht erwiesen. Dennsiekreiertauchständig neue Aufgaben. Wer war vor zehn Jahren schon «KI-Ethiker»?

Fest steht: Unser Wohlergehen wird von den Qualitäten der künstlichen Intelligenz abhängen. In der Altersversorgung, im Klimawandel, in der Medizin.
Als Darrell Bricker und John Ibbitson ihr Buch «Empty Planet» 2019 veröffentlichten, erwarteten sie sich viel von den Einsichten, die sie zu Tage gefördert hatten: «Ich dachte, es würde bum machen.» Doch es kam anders. «Es machte plopp.» Bricker hat auch eine Erklärung dafür: «Es gab keine Kontroverse. Niemand aus der Fachwelt griff uns an. Denn alle wissen, es stimmt, was wir sagen: Wir werden bald weniger.»

Patrick Gerland, Leiter der UNO-Bevölkerungsabteilung hingegen hält Brickers und Ibbitsons Schätzungen derart tiefer künftiger Fertilitätsraten für Ausdruck eines Pessimismus. «Die von der UNO erstellten Prognosen lassen eine optimistischere Sicht auf die Zukunft erkennen, was die Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung der Rolle der Frau sowie der Chancengleichheit betrifft, was es allen Menschen ermöglicht, die Art von Familien zu gründen, die sie wollen.» Oder, kurz gesagt: In einer besseren Welt würden künftig mehr Menschen leben wollen.

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