VON HANNES GRASSEGGER
Den König der Pässe lernte ich auf einer Geburtstagsparty kennen. In einer Kellerbar in Klosters, kurz bevor der Ukraine-Krieg begann. Zwischen goldenen Heliumballons in Bitcoin-Logo-Form und dem Tresen bemerkte ich in den frühen Morgenstunden einen schlanken Herrn mit Jackett. Er hatte ein falkenartiges Gesicht, hellblaue Augen, die graublonden Locken zurückgekämmt. Im Gegensatz zu vielen anderen Gästen trug er keine teure Uhr. Wir kamen ins Gespräch.
Er stellte sich als Chris vor und erklärte, er sei Jurist und arbeite im Bereich Staatsrecht. Im Knopfloch steckte eine Nadel: H&P, in silbernen Buchstaben. Zum Abschied gab er mir seine Karte, auf der in geprägten anthrazitfarbenen Buchstaben stand: «Henley & Partners, Dr. Christian H. Kälin, Group Chairman».
In den nächsten Monaten verbrachte ich viel Zeit mit Christian Kälin. Ich lernte von ihm, wie man Pässe gegen Geld bekommt. Und wo. Er nahm mich mit zu Verhandlungen mit Staatsoberhäuptern und zeigte mir, wie er das Geschäft mit Staatsbürgerschaften von Zürich aus weltweit aufgebaut hatte, bis seine Firma so etwas wurde wie das zentrale Passbüro für reiche Leute.
Zuletzt erfuhr ich von seinem Plan, auch den Schweizer Pass zu verkaufen. Wobei: So dürfe ich das auf keinen Fall schreiben. «Verkaufen» sei der völlig falsche Begriff, sagte er mir. Aber zuerst ein paar Basics:
Was ist eigentlich ein Pass? Es gibt zwei Antworten darauf. Zwei Seiten der gleichen Geschichte.
Der Ausgangspunkt beider Seiten ist derselbe: Ein Pass ist die behördlich verbriefte Zugehörigkeit eines Individuums zu einem Staat. Zu bestimmen, nach welchen Kriterien jemand dazugehören darf, ist ureigenstes Hoheitsrecht des Staates.
Pässe sind eine relativ neue Erfindung. Die Pflicht zum Visum – und damit auch zum Nachweis der Staatsbürgerschaft – setzte sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts durch.
In der einen Erzählung geht es um Schutz und Zugang. Pässe entwickelten sich aus sogenannten Geleitbriefen, Schutzversprechen für Adlige oder Emissäre. Passport, das kommt von «passieren» und «porta», also Tür. Er verspricht Zugang: Wenn wir unseren Pass vorzeigen, dürfen wir eine Grenze passieren. Umgekehrt ist ein Pass ein Anspruch auf Aufnahme bei der Heimkehr. Die Sicherheit, dass dich dein Land aufnehmen und schützen wird. Die Staatsbürgerschaft, auf der der Pass aufbaut, geht noch viel tiefer. Sie ist «das Recht, Rechte zu haben», wie die Philosophin Hannah Arendt schrieb. Nur ein Staatsbürger kann den Anspruch auf den vollen Satz von Rechten erheben, die ein Land gewährt, in demokratischen Staaten beispielsweise das Wahlrecht.
Die Passverteilung im 20. Jahrhundert erscheint auf der einen Seite als Versprechen der Gleichberechtigung.
Die andere Erzählung beginnt mit einer Beobachtung: Pässe machen Grenzen. Der Schriftsteller Stefan Zweig beschrieb im Jahr 1942 die Zeit vor den Pässen so: «Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötzte mich immer wieder neu an dem Erstaunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzählte, dass ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Pass zu besitzen.»
Die Geburt ist eine Pass-Lotterie, hat die Forscherin Ayelet Shachar geschrieben – und der grösste Teil der Menschheit gehört zu den Verlierern. Der Schweizer Pass öffnet weltweit Tür und Tor. Die Schweiz schickt Charterflugzeuge und Diplomaten, um ihre Bürger zu retten, evakuiert und pflegt sie. Andere Staaten hacken manchen ihrer Bürger Körperteile ab, jagen und morden sie rund um die Welt, wie Iran, Russland oder Saudi-Arabien. Die Diktatur in Festland-China wiederum hat aufgehört, Reisepässe ohne speziellen Antrag auszustellen, sie sperrt ihre Bevölkerung ein.
So kommt es, dass viele Menschen gerne einen anderen Pass hätten. Aber das ist schwierig. Nicht einmal zwei Prozent der Menschen erhalten im Laufe ihres Lebens eine neue Staatsbürgerschaft. Einen Pass bekommt man im Normalfall durch Geburt. Entweder aufgrund seiner Eltern – «ius sanguinis», Recht des Blutes – oder aufgrund des Geburtsortes im Land – «ius solis», Recht des Bodens. Einbürgerung, die sogenannte Naturalisation, ist in keinem Land einfach. Gewöhnlich muss man bis zu zehn Jahre lang in einem Land legal gelebt haben, die Landessprache beherrschen und sich materiell versorgen können, um eingebürgert zu werden.
Aber es gibt Ausnahmen. Denn Staatsbürgerschaften sind eigentlich ein unregulierter Bereich. Es gibt hier keine oberste globale Behörde und kein weltweites Passregister. Jedes Land schreibt seine eigenen Regeln dafür, wen es einbürgert und wen nicht. Hier beginnt das Geschäftsmodell der Passvermittler. Und hier setzte Christian Kälin an, wie er mir erklären sollte. Aber erst mal ein aktuelles Beispiel.
Als der Ukrainekrieg begann, ahnten viele Russen, dass die Situation in ihrem Heimatland schwierig werden würde, und entschlossen sich, Türken zu werden. Das ging relativ einfach. Sie kauften sich einen türkischen Pass. Aber keinen gefälschten Pass. Das wäre kriminell.
Man kann die türkische Staatsbürgerschaft ganz offiziell gegen Geld erwerben. Geregelt wird das durch das Staatsangehörigkeitsgesetz Nr.5901, Art.12. Um Türke zu werden, muss man belegen, dass man entweder türkische Immobilien für mindestens 400’000 Dollar gekauft hat, 50 Arbeitsplätze geschaffen hat – oder eine halbe Million für mindestens drei Jahre fest in türkische Firmen investiert, in türkische Banken einbezahlt oder in türkischen Staatsanleihen oder Fonds angelegt hat. Wenn man eine Staatsbürgerschaft nach festgelegten Kriterien käuflich erwerben kann, nennt man das ein «Passprogramm». In der Türkei spült dieses Programm derzeit Milliarden harter Dollar in ein Land, das unter der Entwertung seiner Lira leidet.
Den Pass bekommt man vom Staat, daher sind die Passverkäufer stets Staaten. Formal nennt die Türkei den Kauf eine «Bewerbung». Dazu ist jeder zugelassen, ausser Personen aus verfeindeten Nachbarstaaten wie Armenien. Man muss nicht einmal ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Offiziell übernimmt die Prüfung der Kandidaten das türkische Innenministerium. Bevor die Russen kamen, hatten sich seit 2018 etwa 20’000 Iraner, Iraker, Jemeniten und Afghanen, die von anderen Ländern oft nicht einmal Einreisebewilligungen oder Visa erhalten, einen türkischen Pass beschafft. Für manche von ihnen ist die türkische Staatsbürgerschaft nur ein Zwischenschritt zur weiteren Einreise in die USA, die EU oder die Schweiz.
Als der Ukraine-Krieg begann, stieg die Nachfrage derart an, dass die Türkei im Mai 2022 den Preis erhöhte. Und zwar um 60 Prozent. Seither kostet die Staatsbürgerschaft via Immobilienkauf 400’000 US-Dollar – vorher musste man nur 250’000 investieren.
Die Türkei veröffentlicht keine Zahlen und Namen ihrer Kunden. Ein Indikator sind die Immobilienkäufe. Dank des türkischen Statistikamts wissen wir, dass sich bereits im Februar 2022 die Zahl der Russen, die Immobilien nachfragten, im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt hatte. Im Juni 2022 waren es sechsmal so viele wie im Juni des Vorjahres. Zwischen Januar und Juli 2022 kauften fast 7000 russische Staatsbürger Immobilien in der Türkei.
Beide Länder erlauben Doppelstaatsbürgerschaften. Wenn etwa ein EU-Einreiseverbot für Russen ausgesprochen würde, dann könnten die Neu-Türken weiterhin in die EU einreisen. Und weiterhin international Geld überweisen – was für Russen heute schon wegen Sanktionen schwierig ist. Zudem: Wer nur einen russischen Pass hat, ist Putin ausgeliefert. Pässe sind formal Staatseigentum, der Satz findet sich auf fast jedem Pass. Putin kann also jeden russischen Pass jederzeit einziehen.
So sammeln sich in den türkischen Häfen nun die Superjachten russischer Milliardäre. Und Russlands Internet-Gigant Mail.ru (heute VK) plant, 2000 Software-Entwickler in die Türkei umzusiedeln. Das Land wird zum Aussenposten Russlands.
Dass die Türkei ihre Staatsbürgerschaft überhaupt gegen Geld anbietet, liegt zu einem guten Teil an Kälin.
Ein grauer fünfstöckiger Jahrhundertwende-Bau an der Klosbachstrasse in Zürich Hottingen – hier im Erdgeschoss liegt Christian Kälins Büro. Henley & Partners heisst seine Firma, den englischen Namen behielt er, als er einst zusammen mit seiner Familie die britisch-amerikanische Firma aufkaufte. Heute ist Kälin der Vorstandsvorsitzende.
Bei unserem ersten Treffen im Januar 2022 führt mich eine Empfangsdame in ein helles Verhandlungszimmer. Sie serviert mir Kaffee in einer Porzellantasse, dazu ein Schokolädli. Von Kälin verfasste Bücher zieren ein Regalbrett, Broschüren liegen aus. Am Fenster stehen eine Reihe exotischer Flaggen, wie in einer Botschaft. Rund drei Dutzend Filialen hat Henley & Partners rund um die Welt. Die in Moskau schloss kurz nach unserem Gespräch.
Im Netz inseriert Henley & Partners elf Staatsbürgerschaften alphabetisch aufgelistet von A wie Antigua bis T wie Türkei. Zudem gibt es derzeit fünfundzwanzig sogenannte Goldene Visa, Aufenthaltsgenehmigungen gegen «Investitionen», beispielsweise für Portugal – oder die Schweiz. Es sei aber keineswegs so, dass man die Schweizer Staatsbürgerschaft kaufen könne, erklärt mir Kälin beim Tee.
Viele Kantone vergeben an wohlhabende Bewerber befristete Aufenthaltsgenehmigungen – den B-Ausweis. Dabei vereinbaren sie meist eine Flat Tax, also eine feste jährliche Pauschalbesteuerung, die bei etwa 150’000 Franken pro Jahr beginnt. Bewerbungen müssen sie vorab zur Prüfung an den Bund schicken, der ein Vetorecht hat. Der Bund wiederum kann das Fedpol die eingereichten Dossiers prüfen lassen und entscheidet auf Einzelfallbasis. Rechtliche Basis ist Artikel 30 im Ausländer- und Integrationsgesetz, der die Einbürgerung aufgrund von «wichtigen öffentlichen Interessen» erlaubt, worunter auch «erhebliche kantonale fiskalische Interessen» fallen. Seit 2008 erhielten 5094 Menschen wegen «öffentlichen Interesses» Aufenthaltsbewilligungen, so das Staatssekretariat für Migration (SEM). Namen werden nicht publiziert. Aber es habe auch Ablehnungen gegeben. Details will das SEM nicht nennen.
Seine Firma sei der globale Marktführer in «Citizenship by Investment», hatte ich auf Kälins Webseite gelesen und auch ein Video gesehen, in dem Kälin erklärte: «Henley & Partners ist die Firma, die diese Industrie aufgebaut hat».
«Diese Industrie, ist das der Passhandel?», frage ich. «Nein, nein», schüttelt er vehement den Kopf. «Passkauf und Passhandel kommen im kriminellen Bereich vor, aber damit haben wir eben gerade nichts zu tun!» Was er mache, sei völlig legal. «Richtig ist Staatsbürgerschaftserwerb durch Investition, Staatsbürgerschaftsprogramm, Verleih der Staatsbürgerschaft aufgrund Investitionen, allenfalls noch Passprogramm oder Passerwerb durch Investitionen.» Ich solle auf keinen Fall die «falschen Begriffe» nutzen, mahnt er mich. «Henley & Partners machen keinen Passhandel. Das erkläre ich allen meinen Leuten immer wieder, und auch den Regierungen, wenn es ihnen über die Lippen kommt.»
Als ich mehr wissen will, zögert Kälin. Er habe schon schlechte Presse gehabt. Er meint die Berichte über «Wahlbeeinflussung», die Anwürfe im weiteren Zusammenhang des Mordfalls an der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia, die Berichte über mutmassliche Kriminelle, Politiker und Oligarchen, denen Henley & Partners Pässe verschafft haben soll. Die Medien, die EU, die OECD – sie täten ihm unrecht, sagt Kälin. Er habe Zehntausenden geholfen, ein besseres Leben zu führen. Nach einem Schluck Tee beginnt er zu erzählen, wie alles angefangen hat.
Im Jahr 2006 reiste Christian Kälin, damals vierunddreissig Jahre alt, nach St.Kitts and Nevis.
Die Doppelinsel liegt im karibischen Inselband, das sich von Venezuela im Süden bis nach Kuba zieht. 2006 steckte die Insel in grossen Schwierigkeiten. Bis vor kurzem hatte St.Kitts and Nevis vom Zuckerrohranbau gelebt. Doch 2005 änderte die EU ihre Einfuhrbestimmungen für Zucker. Die Wirtschaft stand vor dem Abgrund.
Kälin arbeitete schon damals für die kleine Treuhandgesellschaft namens Henley & Partners, die sich auf internationale Projekte und Migrationsrecht spezialisiert hatte. Er war bereits einige Male im Land gewesen, diesmal aber hatte er einen Vorschlag für den Premier in der Tasche.
Der Schweizer kennt sich gut aus mit den Wünschen wohlhabender Kunden. Seine Lehre hat er bei einer Zürcher Privatbank gemacht, die später von der Coutts & Co aufgekauft wurde, welche 2014 wiederum in Skandale verwickelt war wegen Offshore-Trusts, unter anderem auf den Cayman Islands. Mitte der Neunziger, während seines Jurastudiums, heuerte Kälin bei einer damals noch kleinen, auf Staatsbürgerschaftsrecht spezialisierten Zürcher Treuhandgesellschaft an: Henley & Partners. Viele Kunden suchten nicht nur Steueroasen für Unternehmen – sie wollten umsiedeln, Immobilien kaufen oder andernorts investieren. Wofür sie oft Aufenthaltstitel benötigten. Das wurde Kälins Spezialität.
Einwanderungsländer wie Kanada oder die USA bieten Investorinnen und Investoren schon lange käufliche Aufenthaltstitel an. Goldene Visa wie das EB-5 in den USA. Wer mindestens 800’000 Dollar in ein US-Unternehmen investiert, kann ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erstehen. 37 Milliarden Dollar hat das den USA seit 2008 eingebracht. Donald Trumps Schwiegersohn Jared Kushner beispielsweise finanzierte damit Immobilienprojekte.
Am meisten aber faszinierte Kälin ein kleines Bergland im Herzen Europas: Österreich. Seit 1985 erlaubt dort das Staatsbürgerschaftsgesetz für «ausserordentliche Leistungen im besonderen Interesse der Republik» die Einbürgerung. Gegen millionenschwere Investitionen oder gemeinnützige Spenden kann man den österreichischen Pass erlangen. Es ist ein Gesetz im Verfassungsrang, erklärt der Wiener Jurist Stefan Pacher, aber es fehle an transparenten Kriterien für den Erwerb der Staatsbürgerschaft. Über diese Einbürgerungen entscheidet die Bundesregierung, also alle Minister gemeinsam, halbjährlich. Diese muss man erreichen – und überzeugen. Folglich gibt es einen grossen Ermessensspielraum. Für Kälin hiess das, zusätzlich zur Zahlung seiner Mandanten: Kontakte aufbauen, Treffen arrangieren, massgeschneiderte Argumente vorlegen.
Kälin sah, wie aufwendig dies war. Andererseits brachte jede erfolgreich vermittelte Staatsbürgerschaft Hunderttausende Franken Honorar.
Ausser in Österreich, und das wussten nur Spezialisten wie er, konnte man damals nur noch in St.Kitts and Nevis sowie Dominica, ebenfalls ein Inselstaat, legal eine Staatsbürgerschaft erwerben. Beide Inselpässe hatten einen schlechten Ruf. Aber dann spielte Kälin das Schicksal in die Hände.
Kanada liess das bis dahin weltweit begehrteste Investoren-Visum auslaufen. Die Wartelisten des Federal Investor Immigration Program waren so lang geworden, dass man ebenso lang wartete wie auf eine normale Einbürgerung. Die Nachfrage nach vergleichbaren Visa oder gar Pässen stieg enorm an. Und als St.Kitts and Nevis 2005 plötzlich seine Haupteinnahmequelle des Zuckers verlor, drohte dem Inselstaat die Katastrophe — und Kälin sah seine Chance.
Im Jahr 2006 sass also Kälin im engen Büro des Premiers Denzil Douglas im obersten Stock der Government Headquarters in der Hauptstadt Basseterre und erklärte, er könne St.Kitts and Nevis viel Geld bringen. Indem er Investoren bringen würde, die sich für Staatsbürgerschaften interessieren würden und zu entsprechenden Investitionen bereit seien. Im grossen Stil.
Das klang nach einem seltsamen Vorschlag. Die Karibikinsel verfügte ja damals bereits über ein Passprogramm. Allerdings hatte man 2005 gerade mal sechs Staatsbürgerschaften verkauft. Dabei hatten die Kittianer den modernen «Passhandel» im Prinzip sogar erfunden. Die Geschichte war haarsträubend – und die Ursache, warum fast niemand den Pass wollte: Der Erwerb von Staatsbürgerschaften auf St.Kitts and Nevis war eingeführt worden, nachdem im Unabhängigkeitsjahr des Inselstaates 1983 ein französischer Mittelsmann des Medellín-Kartells versucht hatte, an Pässe zu kommen. Er brauchte neue Identitäten für seine Klienten. Das wiederum inspirierte einen findigen Politiker zu einer Initiative: Schon im folgenden Jahr erliess das Parlament ein Gesetz, das den Erwerb der Staatsbürgerschaft erlaubte. Für 50’000 US-Dollar und eine Servicegebühr.
Doch als Kälin in St.Kitts begann, war es kompliziert, eine solche Insel-Staatsbürgerschaft zu erwerben. Es konnte Monate und Jahre dauern, je nach Minister, an den man geriet. Niemand trug die rechtliche Verantwortung.
Nun erklärte dieser blonde Neuling dem Premier, dass er «skalieren», den Erwerb der Staatsbürgerschaft zur Industrie machen wolle. Er habe eine Vision: so etwas wie den österreichischen Pass – reputabel, aber viel günstiger. Dafür in grosser Zahl, wie bisher Kanada. Sein Plan war klar: Pässe vom Fliessband. Aber gute!
Er würde, erklärte Kälin dem Premier, den Preis, die «Investitionskriterien», erhöhen. Er würde auch strenger kontrollieren, wer den Pass bekäme. Keine Kriminellen. Das mache das Produkt attraktiv. Dafür aber würde er den Zugang vereinfachen. Und St.Kitts and Nevis und seinen Pass bewerben.
Mit den Einnahmen wiederum könne der Staatschef sein Land retten.
Premier Douglas war interessiert. Allerdings habe er kein Budget für ein solches Projekt, antwortete er.
Auch das hatte Kälin bedacht. Alles sei kostenlos. Henley & Partners würde die Arbeit auf eigenes Risiko vorfinanzieren, wenn 20’000 Dollar Erfolgsprämie pro vermitteltem Fall bezahlt würden. St.Kitts and Nevis würde Henley & Partners dafür das Monopol auf die Vermarktung geben und Henley & Partners das Verfahren designen lassen, also die rechtlichen Vorschriften und Abläufe für den Erwerb der Staatsbürgerschaft.
Douglas schlug ein.
Kälin wusste genau, wer seine Kunden sein würden. Einerseits gab es traditionell viele Amerikaner und Briten, die sich Ferienhäuser auf den Inseln kauften. Einen Pass als Bonus zum Hauskauf würden sie sicher nicht ablehnen. Die anderen aber waren eine neue Zielgruppe.
Die Globalisierung lief auf Hochtouren. Welthandel bedeutete Offshoring, die Auslagerung von Produktionsprozessen aus dem teuren Westen nach Asien, in den Nahen Osten, nach Nordafrika und Südamerika. Eine neue Klasse wohlhabender Unternehmer entstand. Die Anzahl der Reichen in den sogenannten Entwicklungsländern wuchs rasant und tut das bis heute. Weltweit gibt es 62 Millionen Menschen, die eine Million Dollar und mehr besitzen. Über acht Millionen von ihnen kommen aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien.
Zu Hause führen sie zwar ein erstklassiges Leben, doch ihr Pass ist oft eine Bürde. Wer beispielsweise aus Bangladesh oder Nigeria nach New York will, zum Shoppen oder für Geschäfte, muss monatelang auf ein Visum warten. All diese Menschen können einen besseren Pass gut gebrauchen. Es geht ihnen nicht darum, nach St.Kitts zu kommen. Sie wollen nur den Pass. Kälin witterte Millionen potenzieller Kunden. Er nennt sie: Global Citizens.
«Wir haben alles in St.Kitts gemacht», freut sich Kälin noch heute. Er konnte Regeln entwerfen, ganz nach den Interessen seiner Kunden. Erstmals in der Geschichte bestimmte der Markt, wer Bürger wurde. Es war die Geburt einer Branche und Vorlage dafür, wie Kälin bald die Europäische Union knacken sollte.
Hier in St.Kitts schuf Kälin die Blaupause, nach der heute fast alle Passprogramme laufen. Von den rechtlichen Vorschriften über behördliche Abläufe bis zu Logos, Webseiten, Broschüren – und sogar Stellenanzeigen.
Was den Preis des Passes – oder genauer: der Staatsbürgerschaft – anging, positionierte Kälin ihn eindeutig höher: eine Viertelmillion, plus «Gebühr». Um einen Pass für sich und bis zu drei Familienmitglieder, sogenannte wirtschaftlich Abhängige, zu bekommen, konnten Kunden wählen: Entweder 250’000 Dollar in Immobilien auf der Insel investieren oder 150’000 Dollar an einen von Kälin ersonnenen Geldtopf spenden: den landeseigenen Sugar Industry Diversification Fund (SIDF).
Wer spendete, statt Immobilien zu kaufen, zahlte deutlich weniger Gebühren, statt 50’000 Dollar nur 7500. Der Anreiz war klar, der SIDF war, was Kälin zuvor Ministerpräsident Denzil Douglas versprochen hatte: Freies Geld zur Unterstützung der darbenden Wirtschaft, formal verteilt durch ein unabhängiges Gremium, aber in Wahrheit ein politischer Booster für den Premier. Die Regeln wurden immer wieder variiert. Bald stieg die Mindestinvestition in Immobilien auf 400’000 Dollar, was einen Boom an Luxusimmobilien ausgelöst hat, und bald sprang der SIDF an vielen Stellen ein: von der Finanzierung von Sozialbauten über Investitionen bis zu Krediten für Einzelpersonen.
Jeder konnte sich bewerben. Man musste nicht im Land leben und nicht einmal persönlich auftauchen, wurde aber nach festgelegten Regeln geprüft. Man musste also eine sogenannte Due Diligence durchlaufen, um auszuschliessen, dass ungewollte Kunden den St.Kitts and Nevis Pass abwerteten. Wenn Kriminelle einen bestimmten Pass nutzen, dann werden andere Länder vorsichtig und limitieren die Einreise dieser Staatsbürger.
Zuvor, erinnert sich Kälin, hätten St.Kitts and Nevis bei derartigen Einbürgerungsanträgen gerade einmal in das lokale Strafregister oder allenfalls noch auf Interpol-Listen geschaut. Fast niemand hätte in anderen Datenbanken gesucht oder gar die internationale Geldwäscherei-Aufsichtsbehörde FIU kontaktiert.
Henley & Partners hingegen schufen zahlreiche Formulare, auf denen Kunden Auskunft geben mussten, unter anderem über die Quelle der Gelder, mit denen sie den Pass bezahlten. Zur Verwaltung schufen Henley & Partners eine eigene Behörde in St.Kitts and Nevis, die Citizenship by Investment Unit, die direkt an den Premier berichtete. Erstmals hatte ein Staat eine zentrale Anlaufstelle für Passkunden. Und es gab sogar Kontrollmechanismen: Der staatliche Auditor General überwachte die Behörde, der SIDF wiederum liess sich von PricewaterhouseCoopers (PwC), einem globalen Unternehmen, prüfen.
Wer zahlte und die Überprüfungen bestand, bekam die Staatsbürgerschaft – und damit den Reisepass. Dennoch sah es in St.Kitts and Nevis zu Beginn aus, als könnte Kälins Passprogramm scheitern. Im Jahr 2006 verkaufte St.Kitts and Nevis nur 19 Staatsbürgerschaften. «Saint what?», fragten die Leute, als der Zürcher in Hongkong seinen Karibik-Pass vorstellte. Drei Jahre waren er und sein Team weltweit auf Roadshow, um ihr «Produkt» zu bewerben. Nur langsam stiegen die Absatzzahlen. 2007 waren es 75 Pässe, 2008 schon 202.
Doch auf einem ganz anderen Parkett arbeitete Kälin am endgültigen Durchbruch – in Brüssel.
Seit einiger Zeit verhandelten St.Kitts and Nevis bereits mit der EU über die Befreiung ihrer Staatsbürger von der Schengenraum-Visapflicht. Christian Kälin war offizieller Teil der Verhandlungsdelegation. Premier Douglas hatte ihn zum «Spezialgesandten für bilaterale Verträge» ernannt und auch gleich noch zum Honorargeneralkonsul für die Schweiz.
Kein Land ist verpflichtet, die Bürger eines anderen Landes einreisen zu lassen. Wenn es aber zum beidseitigen Vorteil scheint, schliessen Länder Vereinbarungen, Bürgern des anderen Landes Zutritt zu erlauben. Das nennt sich Visumsbefreiung oder Visa Waiver. Alle anderen müssen sich bewerben, und den Beleg einer bestandenen Bewerbung nennt man Visum. Das Ausmass der Prüfung variiert. Visumsgesuche von Personen aus Drittstaaten, von denen ein grosser Zuwanderungsdruck vermutet wird, was für fast alle ärmeren Staaten der Welt der Fall ist, werden im Regelfall mit der Begründung abgelehnt, die Rückkehr ins Herkunftsland erscheine nicht gesichert, wie Marc Spescha, Anwalt und Professor für Migrationsrecht erklärt. Ein visumsbefreiter Pass ist daher wie ein Schlüssel zu einem Land. Je mehr Visumsbefreiungen ein Pass bietet, desto nützlicher ist er zum Reisen. In Kälins Logik bedeutet das: desto wertvoller.
Schweizer kennen die Visumspflicht kaum. Sie haben visumsfreien Zugang zu 186 Ländern. St.Kitts and Nevis hatte im Jahr 2006 gerade mal 62 Visumsbefreiungen. Freie Einreise in die EU würde den St.Kitts and Nevis Pass für Kälin vergolden.
Am 30.6.2009 verkündeten die EU und St.Kitts eine Einigung. Fortan konnte jeder, der einen Pass von St.Kitts hatte, visafrei in die EU einreisen und sich dort für bis zu drei Monate pro Halbjahr aufhalten. Der Pass wurde auf einen Schlag viel gefragter. Bald verkaufte die Insel Jahr für Jahr über 2000 Staatsbürgerschaften.
Das Passprogramm hat seither auf dem Papier die Bevölkerung der Insel verdoppelt, schätzte dieses Frühjahr Dwyer Astaphan, ein früherer Minister, da viele Bewerbungen noch Familienmitglieder oder weitere Personen beinhalten. Ein Immobilienboom begann, auch wenn sich die wenigsten neuen Passinhaber ansiedelten. Auf der Inselgruppe entstanden luxuriöse Bauten, oft Hotels, da die geforderte Mindestinvestition 400’000 Dollar betrug. Statt zu einem Armenhaus wie Haiti wurde die einstige Zuckerinsel zur Luxusdestination.
Die Staatseinnahmen explodierten. Bald war das Passprogramm die grösste Einnahmequelle des Landes, generierte mehr als ein Viertel der jährlichen Wirtschaftsleistung sowie 40 Prozent der Staatseinnahmen. St.Kitts and Nevis lebte nun nicht mehr vom Zuckerrohr, sondern von Pässen. Kälins Unternehmen, Henley & Partners, nahm rund 40 Millionen Dollar pro Jahr ein.
«Es war, als hätten wir eine Ölquelle entdeckt. Wir haben das Land umgekrempelt», schwärmt Kälin. Bald riefen ihn die Nachbarinseln an. «In der Karibik kenne ich jeden», sagt er. Und als das Geld so richtig am Sprudeln war, kam Kälin der nächste Kollaps zur Hand. Aufgrund der weltweiten Finanzkrise ab 2008 suchten Regierungen nach Einnahmequellen. Und stiessen dabei auf Kälins Geschäftsmodell.
Von 2009 an begann Kälin, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, weltweit Pass- und Visaprogramme zu entwickeln. Henley & Partners bieten Staaten alles: von einfachen Beratungsgesprächen für Behörden über das Entwickeln gesetzlicher Regelwerke bis zum Komplettangebot, bei dem Kälins Unternehmen auch noch die Vermarktung übernimmt.
2009 entwickelte seine Firma in Lettland ein Goldenes Visum für Investoren, bis heute brachte es fast 20’000 Menschen ins Land. Achtzig Prozent davon Russen. Im nächsten Jahr arbeitete er mit an der Reform des Investorenvisums, das in Grossbritannien unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen ermöglichte. Hier kam man umso schneller an die Papiere, je mehr man investierte. Bei zwei Millionen Pfund dauerte es fünf Jahre, ab 10 Millionen noch zwei. Über 12’000 Visa wurden ausgestellt, mindestens 17 Milliarden Pfund flossen ins Land, über zwanzig Prozent der sogenannten Tier-1-Visa gingen an russische Millionäre, die in Londons Innenstadt so viele Immobilien aufkauften, dass man dort manche Viertel «Londongrad» nennt. 2010 startete Henley & Partners in Montenegro ein Passprogramm, das für 450’000 Euro einen Pass versprach. Dass Montenegro EU-Beitrittskandidat wurde, machte den Pass wertvoller. Bewerber sind heute vor allem Chinesen und Russen.
Aus dem Unternehmen Henley & Partners war jetzt eine Kampagne geworden. Auf der Steueroase Jersey entstand ein (mittlerweile geschlossener) Verwaltungshauptsitz, in Lissabon eine Zentrale, um weltweit die Verhandlungen mit Regierungen und Politikern zu koordinieren, der Sitz des Mutterunternehmens wurde später in Dubai etabliert. Mit dem Erfolg zog Kälin sich aus dem Kontakt mit Einzelkunden zurück. Er nahm sich auf Nevis ein Anwesen mit einem grossen Park, um eine Doktorarbeit über seine Erfindung zu verfassen: «Ius Doni» – gegebenes Recht. Er hatte ein neues Ziel im Auge.
Malta ist eine kleine Inselgruppe zwischen Sizilien und Libyen, das zehntkleinste Land der Welt. Mit 516’000 Einwohnern ist es dicht besiedelt und wegen fehlender Rohstoffvorkommen auf andere Geldquellen angewiesen. Bis 1964 war es eine britische Kolonie, heute ist Malta das kleinste EU-Land – wer den maltesischen Pass hat, ist daher auch EU-Bürger.
Seit Jahren war Kälin immer wieder hierhergekommen. Der damalige Finanzminister Tonio Fenech, so erzählte mir Kälin, habe sich sehr für ihn eingesetzt (später verfasste Fenech ein Vorwort für einen von Kälins zahlreichen Ratgebern). Die langjährige Regierung der Nationalist Party hätte zwar gerne ein Passprogramm eingeführt, hatte aber nur noch eine Mehrheit von 35 zu 34 Sitzen im Parlament. Zu wenig, um heikle Gesetze wie den Verkauf der maltesischen Staatsbürgerschaft durchzusetzen.
So wandte sich Kälin auch an die Opposition. Er spricht stets mit allen Seiten, erklärt er mir. «Die einen sind heute an der Macht, die anderen morgen.» Im Jahr 2011 erhielt er eine Einladung ins Hauptquartier der oppositionellen Partit Laborista – der sozialdemokratischen Arbeiterpartei – und traf eine Handvoll junger Politiker, darunter Keith Schembri, den späteren Stabschef des Regierungschefs. Für Kälin war es ein Treffen, wie er es oft hatte. Man tauschte Visitenkarten aus, er pitchte Dienstleistungen. Sein Angebot war das gleiche wie in St.Kitts: Falls sie sein Passprogramm einführen, würde Malta viel Geld einnehmen, Hunderte Millionen.
Im März 2013 kam der Sozialdemokrat Joseph Muscat mit einer absoluten Mehrheit an die Macht und liess als eine der ersten Wirtschaftsmassnahmen den Entwurf eines Passprogramms ausschreiben. Am 4. Oktober 2013 verkündete Muscat die Einführung des Passprogramms: entworfen, implementiert und vermarktet von Henley & Partners, die das weltweite Marketing übernehmen durften.
Ein EU-Pass im Angebot – ein Coup für Kälin. Bald sollte seine Firma 40 Prozent aller Malta-Bewerbungen verwalten und ihr grösstes Office in Malta betreiben. Das Malta Individual Investor Program hält Kälin bis heute für sein Meisterstück. In der Öffentlichkeit, gegenüber Kunden, schmückte er sich fortan mit der EU Flagge und bewarb es als das «einzige von der EU anerkannte Passprogramm». Seine Promovideos zeigen den Hauptsitz des EU-Parlaments.
Kälins Team entwarf Gesetze, verfasste die Regeln zur Prüfung der Bewerber und schuf wie in St.Kitts einen staatlichen Fonds, der 70 Prozent aller Einnahmen auffangen und transparent verteilen sollte. Auf Druck der Opposition wurde zudem eine Obergrenze von maximal 1800 Pässen für eine mehrjährige Testperiode eingeführt. Als Bezahlung bekam Kälins Firma von Malta vier Prozent der Einnahmen für jede erfolgreiche Bewerbung. Bei einer Mindesteinzahlung von 650’000 Euro waren das 26’000 Euro pro Staatsbürgerschaft. Zusätzlich verdiente Kälin noch an Kundengebühren. Ursprünglich war der Vertrag zwischen Malta und Henley & Partners geheim, was Empörung weckte bei Kritikern. Mittlerweile ist vieles transparent, seit 2020 ist ein überarbeitetes Passprogramm in Kraft. Hier der exakte Ablauf, um eine Staatsbürgerschaft zu erwerben:
Dauerhafte Anwesenheit auf der Insel ist nicht nötig, zwei kurze Termine bei Bewerbung und Abholung reichen. Zudem eine Mietwohnung oder Immobilie, die als «Anwesenheit» verbucht wird.
Allerdings werden eine Menge Dokumente verlangt: Es beginnt mit der Prüfung durch eine Agentur, beispielsweise Henley & Partners. Die Agenturen nutzen etwa World Check, eine Datenbank, in der man abfragen kann, ob eine Person auf Sanktionslisten steht, fragwürdige Beziehungen hat oder ein politisches Risiko darstellt.
Wird eine Person bei World Check als riskant eingestuft, beauftragen die seriösen Passvermittler private Ermittler oder Wirtschaftsdetekteien, um zu entscheiden, ob sie die oder den Kunden annehmen. Es folgt eine Prüfung in Polizeidatenbanken wie Interpol, Europol und der FIU. Daneben beauftragt die maltesische Regierung zusätzlich zwei unabhängige, private, global tätige Detekteien, die je den Hintergrund der Antragssteller dokumentieren. Bewerber, die für den Schengen-Raum visapflichtig wären, also wohl der Grossteil, müssen zudem durch das normale Schengen-Visa-Verfahren.
Während der Bewerbung werden also viele vertrauliche Informationen gesammelt. Kälins Firma hat Zehntausenden Superreichen Staatsbürgerschaften verschafft, wie er selbst schätzt. Und jeder seiner Kunden muss sein ganzes Leben offenlegen, die Quellen aller Vermögen und potenziell heikle Geschäfte. Niemand wisse mehr über reiche Leute, erklärt er mir eines Tages. «Wir kennen ihre Verwandten, Banken, Freundinnen und weitere Frauen, sogar andere Kinder.»
Als dritter Schritt prüft die Community Malta Agency die Richtigkeit und Stimmigkeit der Bewerbungen. Vor allem die Quellen des Vermögens der Bewerber.
Zuletzt muss der Vorstand der Community Malta Agency dem Minister Kandidaten für die Staatsbürgerschaft vorschlagen. Wer angenommen wird, muss in den Staatsfonds einzah-len. Neu eingebürgerte Malteser werden namentlich im Amtsblatt «Gazetta» verkündet.
Derartige Transparenz hat Folgen, weil sie Kunden aus Staaten, die Doppelstaatsbürgerschaft verbieten, wie Saudiarabien oder China, abschreckt. Zwischen 2014 und 2020 wurden 23 Prozent aller Bewerber abgelehnt. Das ist die höchste Ablehnungsquote bei Staatsbürgerschaftsprogrammen. Allerdings publizieren die wenigsten Länder die Namen der Investorenbürger oder die Ablehnungsquoten. Dennoch betrachten Passvermittler Malta heute als das strikteste und transparenteste Passprogramm – Kritiker sehen es als Einfallstor für korrupte Eliten.
Denn bereits nachdem die erste Stufe der Tests absolviert ist, bekommen Bewerber eine Aufenthaltsgenehmigung, die Reisefreiheit in der EU verleiht. Während sich der St.Kitts Pass noch an Geldeliten aus Entwicklungsländern richtete, ist der dreimal teurere maltesische Pass ein Angebot für Leute mit im Schnitt über 30 Millionen Dollar verfügbarem Vermögen – sogenannte Ultra-High-Net-Worth-Individuals. Attraktiv für Menschen aus Ländern wie Russland oder Saudiarabien, denn er bietet visumsfreien Zugang zu über 185 Staaten, Niederlassungsfreiheit in der ganzen EU – und Aufenthaltsrecht in der Schweiz. Mit diesem Pass kann man problemlos nach New York, St.Moritz oder London und sogar dort wohnen sowie in der EU ein Konto eröffnen.
Was kostet heute eine EU-Staatsbürgerschaft für eine vierköpfige Familie? Ich lasse mir von Henley & Partners einen Kostenvoranschlag erstellen: Malta Express – mit der kurzen Wartedauer von 12 statt 36 Monaten – beläuft sich auf 1’221’999 Euro, inklusive Gebühren von 160’000 Euro. Für Einzelpersonen liegt der Einstiegspreis bei 750’000 Euro.
Die Staatsbürgerschaft war ein Renner in der Welt der Reichen. «Ganz Malta haben wir verändert, so viel Geld haben wir dahin gebracht», sagt Kälin stolz. Doch in Malta hatte er in ein Wespennest gestochen.
Lange war Christian Kälin das Glück hold gewesen. Nun, auf dem Höhepunkt seines Erfolges, wandte es sich von ihm ab. In Malta traf er auf eine unerwartete Gegnerin: Daphne Caruana Galizia, die später einem Mordanschlag zum Opfer fallen sollte.
Der Verdacht, dem die Journalistin auf ihrem Blog «Running Commentary» nachging, war dermassen ungeheuerlich, dass sie von Teilen der etablierten Medien nicht ernst genommen wurde: Die Regierung wolle aus Malta einen Mafiastaat machen.
Ganz Malta kannte «Daphne», wie man sie hier nannte. In einem Staat mit 500’000 Einwohnern hatte sie an manchen Tagen bis zu 400’000 Besucher auf ihrem Blog. Die studierte Archäologin und Mutter dreier Kinder war das grösste unabhängige Medium des Inselstaates.
Maltas «Verkauf von Staatsbürgerschaften», wie sie es nannte, hielt sie von Beginn an für illegal, zudem für einen Betrug an den Wählern. Schon der erste öffentliche Auftritt von Henley & Partners in Malta 2013 gefiel ihr nicht. Sie recherchierte und veröffentlichte in den nächsten Jahren Dutzende kritische Artikel. Sie befürchtete den Ausverkauf des Landes an zweifelhafte Eliten – und Korruption. Sie zeigte, dass Hunderte Millionen, die Malta bis 2016 durch das Passprogramm eingenommen hatte, dem Fonds nicht überwiesen worden waren.
Am meisten aber störte sie das Netzwerk, das Kälin mit der Regierung zu bilden begann. Denn durch seine Kontakte war er mehr als ein Passvermittler. Auf ihrem Blog dokumentierte sie, wie Kälin arbeitete. Kälin hatte durch eine Vertragsklausel die Beteiligung der maltesischen Regierung an seinen Marketingevents zugesichert bekommen, die Henley & Partners als «Konferenzen» konzipiert. Gleich beim ersten Auftritt des maltesischen Premiers Joseph Muscat an einem solchen Event im Jahr 2013 brachte Kälin den Premier mit einem besonderen Kunden zusammen: Ali Sadr Hashemi Nejad, bekannt als Ali Sadr, Sohn des reichsten iranischen Geschäftsmanns. Dank seiner St.-Kitts-Staatsbürgerschaft konnte Ali Sadr trotz der Sanktionen gegen den Iran international Geschäfte machen. Bald nach dem Treffen mit Muscat eröffnete Sadr in Malta eine Bank, die Pilatus Bank.
Caruana Galizia begann, auffälligen Pilatus-Kunden nachzugehen, und entdeckte Konten der mit der Regierung verflochtenen Firma 17 Black. Deren Inhaber Yorgen Fenech steht nun als mutmasslicher Auftraggeber des Mordes an ihr vor Gericht.
Wöchentlich, manchmal täglich, veröffentlichte Caruana Galizia Fundstücke oder auch reine Verdächtigungen, einige davon falsch. Kälin fürchtete um seinen Ruf und forderte sie wiederholt auf, gewisse Posts zu löschen. Später schaltete Henley & Partners die Londoner Kanzlei Mishcon de Reya ein, die bekannt dafür ist, Journalisten mit Klagedrohungen einzuschüchtern. Caruana Galizia antwortete mit geleakten Mails, in denen Kälin sich mit dem Regierungschef und seinem Stabschef über juristische Schritte gegen sie geeinigt hatte.
Im Mai 2017 versuchte Kälin, sie bei einem persönlichen Treffen für sich zu gewinnen. Er sagte mir, sie habe sich einsichtig gezeigt und bestimmte Posts gelöscht, sei dann aber wegen einer weiteren Mahnung der Londoner Kanzlei erzürnt gewesen und wieder zum Angriff übergegangen. Wie einig sich die beiden waren, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Auf ihrem Blog jedenfalls erklärte Caruana Galizia, sie habe Kälin gesagt, er könne sich in Malta nicht wie in St.Kitts als Kolonialmacht verhalten.
Am 6. Oktober 2017 schrieb sie ihren letzten Eintrag zum Passprogramm. Am 16. Oktober wurde sie von einer Autobombe getötet.
Mit einem Donnerschlag geriet der diskrete Kälin und seine Branche ins Scheinwerferlicht. Reporter aus der ganzen Welt reisten nach Malta. Die EU lobte einen Daphne-Journalismus Preis aus, die Daphne-Recherche-Stiftung wurde gegründet. Der Fall löste eine Lawine an Enthüllungen aus.
2018 wurde auch noch eine interne Datenbank von Henley & Partners geleakt. Schnell zeigte sich, dass es bereits etliche Skandale gegeben hatte, nur hatten die wenigsten in Europa davon etwas mitbekommen.
Schon im Jahr 2011 beispielsweise hatte Henley & Partners dem nigerianischen Finanzbetrüger Oluwaseun Ogunbambo bei dem Versuch geholfen, sich in St.Kitts and Nevis einzubürgern. Das war wohl nicht Kälins Intention. Skrupellose Kunden nutzten eine Art Lücke in Henleys Sicherheitschecks, indem sie Angehörige mit weisser Weste vorschickten, sich selber dann als «wirtschaftlich Abhängige» ausgaben und so die Überprüfung umgingen.
Und 2014 veröffentlichte die für Finanzverbrechen zuständige US-Behörde Fincen eine Warnung vor dem Karibikpassprogramm. Sie hatte vor allem die während Kälins Zusammenarbeit mit St.Kitts and Nevis eingeführte Praxis kritisiert, die Geburtsorte neuer Bürger auf den verkauften Pässen nicht anzugeben. In der Folge mussten die Insulaner 5000 Pässe einziehen.
In der Karibik, in der Kälin in den Zehnerjahren für diverse Inseln ein Passprogramm etabliert hatte, zeigte sich, dass Kälin den majestätischen Titel «König der Pässe» wirklich verdient hatte, so viele Freiheiten nahm er sich. Anfang der Zehnerjahre beispielsweise hatte Kälin seinem Freund Patrick Liotard-Vogt zu einem Pass von St.Kitts and Nevis verholfen und sich für ihn mit persönlichen Empfehlungsschreiben eingesetzt. Kälin hatte den Schweizer Jet-Setter zuvor dabei beraten, wie Liotard-Vogt sein Social Network für Reiche – A Small World – neu aufstellen und es in der Schweiz ansiedeln konnte. Bald half er ihm auch bei Investitionen in St.Kitts, etwa in Hotelprojekte. Ein Beispiel, wie Kälin sein Kunden-Netzwerk nutzte.
Sogar in Wahlkämpfe griff Kälin in der Karibik ein, wie «Fast Company», der «Guardian» und der «Tages-Anzeiger» berichteten. Bei mindestens zwei Kampagnen in den Inselstaaten St.Vincent und St.Kitts and Nevis vermittelte Kälin dem dort tätigen und später für seine Zusammenarbeit mit Donald Trump bekannt gewordenen Wahlkampfmanager Alexander Nix, Mitgründer von Cambridge Analytica, Kontakte zu Investoren als potenzielle Geldgeber. Kälin sagt dazu, dass das Passprogramm nie bedroht gewesen wäre und er auch mit der Opposition gute Beziehungen gehabt hätte.
Auch in Malta fand die Presse fragwürdige Neubürger, vor allem Russen mit viel Einfluss und Geld, wie den früheren CEO von Russlands grösster Kreditbank Alfa, den Gründer des Digitalriesen Yandex oder den CEO des führenden Alkoholanbieters Beluga Group. Grosse Teile der russischen Elite kauften sich in die EU ein, Gegner von Putin ebenso wie Verbündete. Russen hatten schon früh 40 Prozent aller Passkunden in Malta ausgemacht. Zwei saudische Unternehmerfamilien hatten gleich 62 Pässe vermittelt bekommen – obwohl Saudiarabien die Doppelbürgerschaft verbietet. Ein Mitglied der saudischen Königsfamilie hatte sogar Maltas Regierungschef überredet, seinen Namen nicht wie vorgeschrieben zu veröffentlichen. Ende 2019 stürzte Muscats Regierung über Bestechungsvorwürfe, die Verflechtungen seines Stabschefs Keith Schembri mit 17 Black, dem Finanzvehikel, das Caruana Galizia einst aufgedeckt hatte, sowie Fragen zu Schembris Rolle im Zusammenhang mit Daphne Caruana Galizias Ermordung.
Ab und zu, sagt Kälin, habe man versehentlich für «schlechte Menschen» gearbeitet. Aber so sei das eben. Wie bei Banken. Unter tausend Kunden sei immer eine Handvoll faule Eier. Haftbar ist Kälin nicht für Einbürgerungen, genau genommen sind Henley & Partners nur vermittelnde Agentur. «Berater beraten, Staaten entscheiden», sagt Kälin.
Wenn ein Staat allerdings in den Ruf gerät, suspekte Personen zu beherbergen, hat das Folgen für alle Bürger. Das Reisen wird wesentlich schwieriger, weil Visabefreiungen storniert werden. Internationale Überweisungen werden schwieriger, wenn Institutionen wie die OECD oder der Internationale Währungsfonds Verdacht auf Geldwäscherei schöpfen und Länder auf graue oder schwarze Listen setzen. Finanzflüsse werden eingeschränkt und Zahlungen aus dem betreffenden Land stärker geprüft oder gar verhindert. 2021 kam Malta vorübergehend auf eine «Graue Liste».
Das zunehmend erkennbare Ausmass der Probleme, die das Geschäft mit Staatsbürgerschaften mit sich brachte, befeuerte die Kritiker im EU-Parlament.
Schon mit dem Beginn des maltesischen Passprogramms hatte sich in der EU Widerstand geformt, der vorerst allerdings wirkungslos blieb.
Die Ausgangsposition war klar: Seit Jahrzehnten preist die EU die sogenannte Unionsbürgerschaft an. Sie ist sozusagen die Belohnung für die Bürger, eine Art Upgrade für jeden Pass eines Mitgliedslandes: Reisefreiheit, Wahlrecht, Niederlassungsfreiheit und Diskriminierungsverbot. Nun aber kamen Passvermittler und boten all das für circa eine Million Euro auf ihren Webseiten an.
Daher erklärte die damalige Vize-Präsidentin der EU-Kommission Viviane Reding bereits im Januar 2014, als das Malta-Programm startete: «Staatsbürgerschaft darf nicht zum Verkauf stehen.» Es dürfe kein Preiszettel auf der EU-Staatsbürgerschaft kleben. Das EU-Parlament beschloss mit einer aussergewöhnlichen Geschlossenheit von 88 Prozent eine Resolution gegen Goldene Pässe, in der gefordert wurde, Einbürgerung sollten nur jenen zustehen, die eine genuine Verbindung mit einem Land hätten.
Das führte zur Frage, was eine «genuine Verbindung» ist. Das ist im Staatsrecht schon lange umstritten.
Staaten entscheiden selber, wer zu ihnen gehört – es ist Teil ihrer Souveränität. EU-Staaten zu etwas zwingen könnte formal nur die EU-Kommission. Diese aber besteht aus Vertretern von Mitgliedsregierungen. Würden diese die nationale Staatsbürgerschaft zu limitieren versuchen, würden sie sich selbst beschneiden. Es ist vertrackt.
So begann in Brüssel eine Auseinandersetzung zwischen Parlament und Kommission. Die innere Blockade zeigte den Demokratiemangel im Herzen der EU: Die Volksvertretung, das Parlament, ist nicht der Souverän, sie konnte Resolutionen erlassen, aber keine staatlichen Gesetze. Im März 2019, nach zahlreichen Untersuchungen, beschloss die EU-Kommission, eine Expertengruppe einzusetzen, um die Risiken der Investoren-Staatsbürgerschaften zu untersuchen.
Es wäre wohl noch lange so weitergegangen, hätten nicht im August 2020 Journalisten von al-Jazeera aufgedeckt, wie korrumpierbar das florierende EU-Passprogramm in Zypern war. Kälin hatte es nicht mitgestaltet, auch wenn sein Unternehmen hier ebenfalls Staatsbürgerschaften vermittelte. Mit 2,15 Millionen Euro je Einbürgerung war Zypern viel teurer als Malta, aber beliebt bei Chinesen und Russen. Fast 7000 Einbürgerungen wurde stattgegeben, viermal so viel wie in Malta. Im EU-Staat Zypern hatten sich ganze russische Quartiere gebildet, aus Limassol wurde Limassolgrad. Und wie auch in St.Kitts liess die Investorenmigration allerorts Luxushotels entstehen. Die Geldflüsse machten 2019 rund 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Insel aus.
Al-Jazeera filmte verdeckt, wie zypriotische Pass-Vermittler, Immobilien-Makler und der Parlamentssprecher sich bestechen liessen. Eine Untersuchungskommission fand später Verfahrensfehler in über der Hälfte aller untersuchten Einbürgerungen. Dutzende Pässe, gelegentlich auch die dazugehörigen Staatsbürgerschaften, wurden später entzogen.
Daraufhin proklamierte im September 2020 die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen: «Europäische Werte stehen nicht zum Verkauf.» Ein «Vertragsverletzungsverfahren» wurde gegen Zypern und Malta gestartet. Die Zyprioten froren ihr Programm ein, liessen keine neuen Kunden mehr zu.
2020 und 2021 legte die Pandemie weltweit Flugverkehr und viele Behörden lahm – Passvermittler konnten nicht mehr liefern. Auf der einen Seite entstanden Warteschlangen, auf der anderen Seite löschte Pekings Null-Covid-Politik und die zunehmende Kontrolle seiner Bürger die Nachfrage aus China aus. Kälins Geschäft brach um bis zu siebzig Prozent ein, wie er mir erklärte.
Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Bereits am 26. Februar forderte das Weisse Haus in einer gemeinsamen Erklärung mit der EU-Kommission, Frankreich, Deutschland, Italien, Grossbritannien und Kanada, keine Staatsbürgerschaften mehr an Russen zu verkaufen. Länder, die Staatsbürgerschaften anboten, kamen ins Visier. Im Juni annullierte die Schweiz die Visabefreiung für alle Bürger von Vanuatu, die den Pass nach 2015 erworben haben – nachdem die EU diesen Schritt schon im März vollzogen hatte. Ebenfalls im März beschloss Bulgarien, sein Passprogramm einzustellen. Österreich schaffte es, sich der Diskussion zu entziehen, weil das Land sein Passprogramm nie offiziell formalisiert hatte. Jetzt blieb nur noch Malta.
Am 10. Mai 2022 bat der ukrainische Präsident Selenski per Videoansprache das maltesische Parlament, Russen die Goldenen Pässe zu entziehen und ihre Güter zu beschlagnahmen. Malta beschloss, keine neuen Russen und Belarussen einzubürgern (was Russen fortan in die Türkei strömen liess), weigerte sich aber, das Passprogramm aufzugeben. Am 29. September schliesslich entschied die EU-Kommission, Malta vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen. Acht Jahre nach Kälins grösstem Erfolg schien nun das Ende nahe. Oder doch nicht?
An einem Morgen im Mai 2022 fahre ich nach Davos ans World Economic Forum. Kälin hat mich eingeladen. Er will mir zeigen, dass sein Geschäft mit Staatsbürgerschaften keineswegs vor dem Untergang steht, sondern ganz im Gegenteil: vor dem nächsten Durchbruch. Und dafür nimmt er mich mit zu Geheimverhandlungen. Vorab muss ich eine Vertraulichkeitsvereinbarung, ein sogenanntes NDA, unterschreiben. Ich darf nicht verraten, mit wem genau er an den zwei Tagen spricht.
Treffpunkt in Davos ist das Hard Rock Hotel, wo Kälin sich für mehrere Tage einen runden Tisch im Restaurant reserviert hat. Wie immer steckt seine Anstecknadel am Jackett. «Früher hatten wir einen WEF-Stand», sagt er. «Ich hab gemerkt, dass wir das gar nicht brauchen. Die Regierungen kommen zu mir.» In London empfängt er Regierungsvertreter immer im selben Hotel, in Zürich kommen Premiers zu ihm in ein Billardcafé. «Wir sind ein relativ kleines Unternehmen mit knapp 400 Mitarbeitern, aber haben ein Gewicht wie ein grosser Konzern.»
Und tatsächlich kommt ein Regierungsvertreter nach dem anderen. Etwa alle anderthalb Stunden wird neu aufgetischt. Kaffee, Avocado-Salat, Burger. Zuerst überreicht Christian Kälin stets sein selbstverlegtes weisses Promo-Buch «Residence & Citizenship Programs. Government Advisory», das mit Porträts strahlender Kunden und Regierungsmitglieder bebildert ist. Es ist immer dasselbe: Die Premiers, Stabschefs oder Aussenminister kleinerer Staaten wollen Geld für ihre Staatskasse.
Kälin spielt mit Zahlen. Jährlich 600–700 Pässe, rechnet er vor, das mache 150 Millionen Direktinvestitionen, 300 Millionen für den Immobilienmarkt. Nordmazedonien biete doch auch die Staatsbürgerschaft an, fragt eine besonders informierte potenzielle Kundin, wer da ins Land käme? Vor allem Chinesen und andere Asiaten, aber das Programm sei neu, sagt ein Mitarbeiter, es gäbe noch keine Zahlen. Nicken. Keiner äussert moralische Bedenken, aber alle Regierungen haben Angst, auf graue Listen zu kommen oder aus Staatenbündnissen zu fliegen. «Die EU macht Druck wegen zehn Problemfällen, die durch die Due Diligence rutschen», sagt Kälin, «aber lässt ohne weiteres jährlich Hunderttausende von Migranten ungeprüft rein.»
Kälin ist in seinem Element, er hat auf alles eine Antwort. Den einen rät er, das Passprogramm umzubenennen und neu als Initiative für Tech-Talente zu verkaufen. In einem anderen Fall analysiert er, ob eine Kritikerin, die bei der OECD arbeitet, eine reale Gefahr darstellt. Kälin kennt seine Gegner. Zehn seiner Leute seien das ganze Jahr auf Reisen, um Regierungskontakte zu pflegen.
Als der letzte Aussenminister geht, schnalzt er zufrieden. «Auf dieses Land haben wir seit zwanzig Jahren gelauert wie ein Tiger auf eine Antilope.»
Plötzlich, am Nachmittag des zweiten Tages, springt er kurz nach einem eher enttäuschenden Meeting, bei dem ihn ein Premierminister versetzt hat, freudig auf. Eine Nachricht von einem grossen Staat. Diesmal bewegen wir uns, hetzen die Davoser Dorfstrasse entlang, treten in ein vermietetes Ladengeschäft, wo man uns in ein Hinterzimmer bittet.
«Bring mir die Milliardäre», ruft der Minister eines EU-Landes, als Kälin in das Hinterzimmer tritt. «Ich bin der grösste Fan deines Projektes, ich bin der wirklich grösste Fan deines Programms, und wir wollen das unbedingt bei uns haben.»
Kälin lächelt.
«Aber unser Problem», fährt der Minister fort, «ist unser Regierungschef. Und unser eigentliches Problem sind die Zyprioten.»
Was er damit meint, ist der Vorfall, bei dem al-Jazeera gefilmt hatte, wie korrupt das zypriotische Passprogramm war.
Alle setzen sich. Der Minister wirft einen amüsierten Blick in die Runde: «Als man gesehen hat, was die gemacht haben, die haben wirklich Leuten geraten, Kriminellen gesagt: Änder doch deinen Namen! Auf Kamera!»
Schallendes Gelächter bei den Begleitern des Ministers. Jetzt müsse man eben abwarten, ob die Zyprioten eine Strafe zahlen müssten und wie hoch diese würde.
«Müssen sie nicht…», wiegt Kälin wissend ab. Der Minister fällt ihm ins Wort: «Weisst du, was ich wirklich denke? Wir können keine Autos bauen, aber wir können Lebensqualität anbieten. Bitte bringt uns ein paar Milliardäre. Und lasst sie gleich in die Villen einziehen.»
Kälin will zur Sache kommen. Doch als er gerade beginnt, einen Plan zur Einführung eines neuen Passprogramms auszurollen, winkt der Minister wieder ab: «Das hilft nicht über Zypern hinweg.»
Kälin lehnt sich zurück: «Wir sind mit zwei weiteren EU-Ländern im Gespräch.»
Der Minister schaut auf. «Wenn Österreich das anbietet, und wir, und noch zwei andere, das ändert alles!»
«Genau», sagt Kälin, «dann kann die EU nicht mehr anders, als dies zu akzeptieren.»
Kurz bevor die EU sich zur Klage gegen Malta entscheidet, will ich von Kälin wissen, wie gefährlich die EU-Kommission seinem Geschäft werden kann. Gerade hatte sie Malta und Zypern sogenannte Reasoned Opinions gesandt. Die letzte Vorstufe einer Klage.
Kälin wiegelt wiederum ab. Ich erinnere mich an die Liste seiner Rechtsexperten, die er mir zugestellt hat. Unter diesen ist auch sein Freund Dimitry Kochenov, mit dem Kälin mich bereits bei einer Konferenz in Brüssel verknüpft hatte. Kochenov sieht aus wie Einstein mit roten Haaren, zeigt sich gerne im Zweireiher mit farbiger Fliege, gilt als genialischer EU-Staatsrechtler – und hasst Pässe. Er hält Reden und publiziert Bücher, in denen er erklärt, Staatsbürgerschaft sei rassistisch. Sie binde Blut und Boden, da Staatsbürgerschaft meist über die Eltern, über Blutsbande weitergegeben werde.
Nichts bestimme unser materielles Wohlergehen so sehr wie die Staatsbürgerschaft, in die wir geboren werden, erklärte er mir, als ich ihn am Rand eines Passvermittler-Kongresses traf, an dem er eine feurige Rede gehalten hatte. Kochenov ist der Spiritus Rector der Passvermittler. Sie lieben ihn dafür, dass er erklärt, ihr Geschäftsmodell sei gut. Staatsbürgerschaft ist für ihn wie eine Zwangsheirat, eine Form der Sklaverei. Jede Nische, die sich biete, um diesem Zwang zu entkommen, sei positiv.
Kälin hatte Kochenov 2011 in der Lounge des Flughafens Zürich kennen gelernt. Beide waren auf dem Weg nach Malta. Die dortige Regierung wollte von Kochenov wissen, ob das geplante Investorenpassprogramm legal sei. Kochenov fand ja. Seither sind die beiden befreundet. 2020 publizierten sie einen gemeinsam entwickelten Indikator für den Wert von Staatsbürgerschaften, den «Quality of Nationality Index». Der QNI misst Faktoren wie Reise- oder Wirtschaftsfreiheit. Ergebnis ist ein globales Ranking.
2021 allerdings musste Kochenov wegen Kritik an seiner Mitarbeit am maltesischen Passprogramm seine Universität in Holland verlassen. Nun lehrt er an der Central European University in Wien.
Kochenov erklärt mir, warum die EU-Kommission keine grosse Chance habe, die Mitgliedsländer beim Verkauf von Staatsbürgerschaften einzuschränken. Sein Punkt: Die EU besteht aus souveränen Staaten. Diesen Staaten die Möglichkeit zu nehmen, ihr Volk «zu formen», verleugne ihre Staatlichkeit und das Wesen der Volkssouveränität. Kurz: Ohne souveräne Staaten gibt es keinen Staatenverbund mehr – und damit keine EU.
Es ist diese Lücke im internationalen Staatsrecht, die das Geschäft mit Staatsbürgerschaften ermöglicht.
Aber Kochenov hat noch mehr zu bieten. «Ein guter Freund hat in der Kommission an dem Thema gearbeitet», textet er mir. «Falls Du eine Insider-Sicht haben willst, kann ich Euch verknüpfen.»
Kälins Berater Kochenov hat also seinerseits eine direkte Beziehung zur Regulatorin der Branche: der Justizabteilung der Generaldirektion der EU-Kommission.
Natürlich bin ich interessiert.
Am nächsten Tag spreche ich via Zoom mit Kochenovs Freund. Er ist Jurist und entwirft im sogenannten DG Just der Kommission EU-Regelungen. Hat er etwas damit zu tun, dass Kälin der Klage der Europäischen Union so entspannt entgegensieht?
Neugierig geworden suche ich seinen Namen in den Henley-Leaks. Und werde fündig. Im Jahr 2017 beschloss das Board von Henley & Partners, diesen Mann einzustellen. Als «Berater für Regierungsberatung». Auch eine Zahlung an ihn finde ich, allerdings nur etwa 900 Euro. Ich blättere durch den weissen Buchband «Government Advisory» aus dem Jahr 2018, den Kälin bei Beratungsgesprächen an Regierungen austeilt. Tatsächlich taucht der Mitarbeiter der EU-Kommission dort als Mitglied des Henley & Partners «Government Advisory» auf, inklusive Foto und Biografie.
Doch weder auf seinem EU-Profil noch auf seiner LinkedIn-Seite findet sich ein Hinweis darauf, ob er je für Henley gearbeitet hat. Ebenso wenig gibt es Hinweise dafür, dass wirklich Informationen geflossen sind zwischen der Firma und dem EU-Mitarbeiter. Es ist einfach ein weiteres Beispiel dafür, wie hochkarätig Kälins Netzwerk ist.
Am 29. September 2022 entschied die EU-Kommission gegen Malta zu klagen.
Die Soziologin Kristin Surak von der London School of Economics schätzt, dass jährlich weltweit etwa 25’000 Staatsbürgerschaften gegen Geld «erworben» werden. Kälin hat Konkurrenz bekommen. Neue spezialisierte Firmen wie Arton Capital, Latitude, CS Global Partners und Apex Capital Partners sowie grosse Unternehmensberatungen wie PwC sind im Markt. Niemand weiss genau, wie viel Geld mit dem Vermitteln von Staatsbürgerschaften und Visa gemacht wird. Der von Kälin mitgegründete Branchenverband IMC behauptet, man erwirtschafte 20 Milliarden Dollar jährlich.
Kristin Surak geht davon aus, dass es heute rund 70 Länder gibt, die Aufenthaltsgenehmigungen formal verkaufen – sogenannte Residency by Investment –, darunter 14 EU-Staaten, und «maximal 22 Länder», die Staatsbürgerschaften anbieten – Citizenship by Investment. Italien bietet ein «Dolce Visa», Portugals Goldenes Visum, das eine halbe Million Euro kostet, wurde seit 2012 von über 11’000 Investoren gekauft. Über zwei Drittel der Käufer waren Chinesen, einige Hundert Türken sind auch darunter. In Wahrheit könnte es sich um Russen handeln, die sich den türkischen Pass kauften und damit das portugiesische Visum – eine Kombination, die Henley & Partners vielen Kunden empfiehlt. Darüber hinaus haben Millionen von Menschen mit Vorfahren aus der EU theoretisch ein Anrecht auf Einbürgerung, teilweise bis in die dritte Generation. Egal wie der EU-Gerichtshof entscheidet: Wer genug Geld hat, dem wird die EU offenstehen.
Die Reichen entkoppeln sich von Diktaturen wie China oder bedrohten Demokratien wie Hongkong, Indien und Brasilien. Der Krieg in der Ukraine verstärkt diese Tendenz. Russland verliessen laut einer Studie von Henley & Partners in der ersten Jahreshälfte geschätzt 15’000 seiner rund 100’000 Millionäre; die Ukraine 42 Prozent ihrer Superreichen.
Neuerdings gibt es zunehmend Passkunden aus Grossbritannien – und den USA. Grossbritannien habe seit dem Brexit Tausende Millionäre verloren, schätzen Henley & Partners. Aus den USA seien es oft Demokraten, die um die Stabilität in ihrem Heimatland fürchteten, erklärt mir Kälin. Aber nicht nur. Im Oktober deckte die «New York Times» auf, dass sich Peter Thiel, der Techunternehmer, der in den USA radikale Republikaner finanziert, ebenfalls um einen maltesischen Pass beworben hat. Der Reporter Ryan Mac fand das Apartment in Valletta, das Thiel als Residenzadresse angab – auf Airbnb. Dass die Ersatz-Staatsbürgerschaft als Versicherung auch für solche Käufer attraktiv wird, könnte ein Indikator für den Vertrauensverlust der Eliten in die Zukunft der Nationalstaaten an sich sein. Oder ein Beleg dafür, dass Kochenovs postnationale Vision, die Trennung von Staatsbürgerschaft und physischem Boden, Staat und Kultur, im Mainstream ankommt. «Wir sind die Türken von morgen», prophe-zeite einst die deutsche Elektro-Band DAF.
Kälin will nicht kommentieren, ob Thiel sein Kunde ist. Erfahrung mit Techunternehmern hat er. Wie Dokumente, die dem «Magazin» vorliegen, belegen, besorgte Henley & Partners bereits 2012 dem Telegram-Gründer Pawel Durow die Staatsbürgerschaft von St.Kitts and Nevis, nachdem sich der Entwickler der Messenger-App mit dem russischen Geheimdienst angelegt hatte. Er zeigte fortan sein Jet-Set-Leben auf Instagram und bezeichnete sich als «legal Citizen of the World».
Später bekam Durow zwei Staatsbürgerschaften verliehen, die nicht für Geld zu haben sind: die von Frankreich und die der Vereinigten Arabischen Emirate. Es geht oft unter in den kritischen Berichten vieler Medien zu Passprogrammen, dass die Bürger das Kapital eines Staates sind. Es kann ein Gewinn, ein geopolitischer Powermove sein, wenn ein Staat besonders einflussreiche Leute an sich bindet.
Im Spätherbst 2022 ist Kälin bester Stimmung. Er erwartet Rekordeinnahmen. Auch die neue italienische Regierung unter der Postfaschistin Giorgia Meloni lässt ihn hoffen. Das seien Pragmatiker, die sich «positive Migration» wünschten. Im November besuchte er Rom.
Ohnehin ist Kälin viel auf Reisen, Albanien, Montenegro. Auf dem Balkan hofft er auf neue Passprogramme. Einmal will er mich nach Afrika mitnehmen, wo Henley & Partners nach Kenia, Nigeria und Südafrika expandiert. Sein nächster grosser Coup soll in Nordafrika stattfinden: Ein souveräner Stadtstaat für Geflüchtete, die nirgendwo reingelassen werden und sich keine Staatsbürgerschaft kaufen können: die «Andan Global City». Kälin will ein Land gründen. Mit eigenen Pässen.
Mittlerweile könne er sich sogar vorstellen, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu vermitteln. Ein Antrag für wohlhabende Nicht-EU-Ausländer auf Aufenthaltsgenehmigung sei bisher «eher intransparent und kompliziert», man müsse Kontakte mit lokalen Behörden aufbauen. Kälin sagt, dass ein Staatsbürgerschaftsprogramm der Schweiz Milliarden bringen könnte. Dabei müsste der Schweizer Pass der exklusivste der Welt werden, erklärt er mir. Der Preis? Mindestens zehn Millionen Franken. Mit dem Geld könne man beispielsweise die Renten sichern. «Man müsste eigentlich eine Volksinitiative starten».