November 14, 2015

Vitalik Buterin – Der digitale Lenin

Wie Vitalik Buterin die Banken das Fürchten lehrt.

Vor einer dieser Hecken, hinter denen sich Leute mit Geld verbergen, steht ein hochgewachsener junger Mann in Socken. Seine Haut ist weiß, ein ausgewaschenes T-Shirt schlabbert um die Hühnerbrust. Auf seinem zarten Hals ruht ein großer, eckiger Kopf mit tief in den Höhlen vergrabenen Augen. Wie ein Reh am Waldrand blickt er in Richtung der kleinen Straße, die sich entlang eines Bachlaufs windet. Als der Besucher in Hörweite ist, winkt der junge Mann sanft und sagt mit weicher Stimme einfach nur „Hey“.

Das ist er also: Vitalik Buterin, 21 Jahre alt, russisches Software­Genie, das von Baar, Kanton Zug, aus operiert und bei dem sich die Finanzwelt fragt, ob es ihr Todesengel ist. Oder doch der Messias.

Zwei Wochen später werden sie in London vor diesem knabenhaften Enigma sitzen, all die CIOs und CTOs der Großbanken und Fondsgesellschaften, um sich bei einer Veranstaltung in der Schweizer Botschaft anzuhören, wie seine neuen Codezeilen ihre Imperien überflüssig machen. Sie werden um ihn herumstehen, ihm zuhören, an seinen Lippen hängen, und ihre Augen werden tatsächlich glänzen.

Vitalik Buterin führt den Gast zum Eingang eines schicken dunkelgrauen Kastenbaus mit schmalen Fenstern. Könnte auch eine Architektenvilla sein. Es läuft elektronische Musik. Im dritten Stock ist das Office, kein Papier, keine Regale, nur ein endlos langer Tisch, vollgestellt mit PCs und Macs. Auf der Etage darunter wohnen und schlafen ein Dutzend Programmierer. Buterin arbeitet sieben Tage die Woche. Sonst würde ihm langweilig, sagt er.

„Holon 000“ nennen sie das Gebäude, manchmal auch „Raumschiff Ethereum“. Ethereum: So heißt Vitaliks Vision einer perfekten Blockchain, einer globalen Software, die einen unfehlbaren Austausch von Werten ermöglicht. Das ist es, was die Programmierer eint, die hier zusammengekommen sind: der Glaube, so etwas wie das Neue Testament der digitalen Finanzepoche zu verfassen.

Im schweizerischen Zug sitzen Buterin und seine Mitstreiter in diesem Bau, der einer Architektenvilla gleicht
Im schweizerischen Zug sitzen Buterin und seine Mitstreiter in diesem Bau, der einer Architektenvilla gleicht – Foto: Peter Tillessen

Die Blockchain ist in den letzten Monaten zum Schlagwort Nummer eins in der Finanzbranche geworden. Fachmedien überbieten sich mit Berichten, im Herbst schlossen sich eine Reihe von Banken – darunter Goldman Sachs, JP Morgan, UBS und Credit Suisse – zusammen, um an einem gemeinsamen Standard zu forschen. Mittlerweile ist das Wort „Blockchain“ sogar ins Oxford Dictionary aufgenommen.

Der Begriff taucht vor allem im Zusammenhang mit der digitalen Währung Bitcoin auf – dabei geht die Idee darüber hinaus: Die Macher schwärmen von intelligenten Verträgen, von E-Voting-Systemen, die nicht manipulierbar sind, von einer Technologie, die unsere Welt mit ihren Datenbanken, Archiven und Servern revolutionieren könnte. Und einer der führenden Köpfe ist Buterin.

Er tritt auf die Terrasse, in Socken. Auf der anderen Seite des Bachs liegt der Hauptsitz von Glencore, des weltgrößten Rohstoffkonzerns. Aber den kennt Vitalik nicht. Rohstoffe, das ist physische Sphäre. Nicht seine Welt. Er lehnt sich über das Geländer. Von Zug hat er noch nicht viel mitbekommen. Er hätte überall hinziehen können, wo die Regulierungen nicht zu streng sind. London, Singapur, Hongkong. „Das hier ist nicht das Silicon Valley.“ Er deutet auf die Berge. „Das hier ist Silicon Mountain.“ Das gefällt ihm.

Dank seines Programms, sagt er, könnte es eines Tages Firmen geben, die sich selbst gehören. Vollständig von Computerprogrammen geführt, die ihre Geschäfte auf der Basis von Smart Contracts – selbstausführenden digitalen Vertragswerken – tätigen. Wie selbstfahrende Taxis, die auf sich selbst registriert sind und ihre Wartung durch die Einnahmen finanzieren. Es ist die kühne Vision, den Kapitalismus an Maschinen abzugeben. Die Idee hat er aus einem Buch von Daniel Suarez. Science Fiction liest Buterin gerne.

World-of-Warcraft-Dilemma

Wenn er spricht, klingt er wie Siri, die Computerstimme des iPhones. Seine hellblauen Augen wandern hin und her, als würde er gerade von einem Bildschirm ablesen. Er ist im Netz aufgewachsen. Schon mit zehn programmierte er in der Computersprache C++. Mit niemandem teilt er mehr als mit dem Internet. Niemandem hat er sich so sehr anvertraut. Das Netz hat ihm Mandarin beigebracht, das braucht er jetzt häufig auf seinen Reisen nach China. Auch Deutsch. „Aber das spreche ich nur selten mit Menschen“, sagt er.

In der realen Welt wirkt er schüchtern, bei Gesprächen hält er Abstand von ein bis zwei Metern. In der Welt der Bits aber ist er ein digitaler Lenin. Nur im Netz, sagt Buterin, habe er Menschen gefunden, die es in Diskussionen mit ihm aufnehmen konnten. So ausufernd sind viele seiner Posts, voll wiederkehrender Fachbegriffe, dass Spötter einen Algorithmus programmierten, der ähnlich klingende Reden verfasst. „Etherische Verse“ nennen sie das.

Wer verstehen will, wie Buterin zu einem der führenden Blockchain-Köpfe wurde, muss vier Jahre zurückschauen, als er 17 Jahre alt ist. Damals erzählt ihm sein Vater, ein Software-Unternehmer, von der digitalen Währung Bitcoin. Als er im Internet davon liest, beginnt er, die Sache ernst zu nehmen.

Wie viele seiner Generation ist Vitalik ein World-of-Warcraft-Spieler. Ein netzbasiertes Kampfspiel, bei dem man Waffen und Rüstungen kaufen muss. Was ihn vor ein Problem stellt, das vielen minderjährigen Gamern bekannt ist: Wie sollte er ohne eigenes Geld an die Waffen herankommen? Ein bisschen Bargeld hat er ja, aber kein Zahlungsmittel, das er im Netz einsetzen kann. Keine Kreditkarte, kein Konto. Ein Schicksal, das er mit einem ziemlich großen Teil der Weltbevölkerung teilt. Allein in den USA, dem Kreditkartenland, besitzen etwa zehn Millionen Haushalte kein Bankkonto.

„Zahlungssysteme haben viel mit Freiheit zu tun“, sagt Buterin. „Ich habe früh angefangen, anarchistische Literatur zu lesen. Sozialistische Anarchisten wie Bakunin und Kropotkin, aber auch radikal marktliberale wie Ayn Rand.“ Besonders packt ihn der Streit zwischen dem linken Marktkritiker Pierre­Joseph Proudhon und dem Ökonomen Frédéric Bastiat, der freie Marktpreise als Ausdruck göttlichen Wirkens sah. Eine Kernfrage der Debatte war die Rolle des Geldes: Wenn Geld Macht ist und Politik die Organisation der Macht, dann regiert derjenige, der die Geldströme lenkt. „Auch darum fand ich Zahlungssysteme im Internet interessant.“

Diese Zahlungssysteme im Netz sind auch heute noch eher unterentwickelt, Geldtransfers unsicher. Und jeder muss immer eine Menge Informationen preisgeben, Kartennummer, Name und Adresse, an Unbekannte. Braucht man all diese Informationen? Auf einen Geldschein muss man ja auch nicht seine Adresse schreiben.

Vertrauensmangel im Netz

Buterin findet das nicht nur widersinnig, ihn stört, dass man dafür auch noch zahlen soll. Bei jeder Zahlung mit einer Kreditkarte agieren im Hintergrund mehrere Firmen, verlangen Sicherungscodes und Verifizierungen – und dafür lassen sie sich bezahlen. Für das fehlende Vertrauen. Ein gewaltiger Vertrauensmangel im Netz, so befindet der damals 17-Jährige, ist der Grund für die komplizierten Vorgänge und somit für all die Gebühren – ein milliardenschweres Geschäft. Und die Grundlage für Unternehmen wie Visa, Mastercard oder Paypal. „An dem Tag, als ich mir Bitcoin zum ersten Mal genauer ansah“, sagt Buterin, „verstand ich, dass Zahlungen ohne Mittelsmänner möglich sind.“

Er erkennt, dass eine andere Welt möglich ist. Bitcoin-Überweisungen sind fast kostenlos. Die Gebühren sind mikroskopisch, egal wie hoch die Summe ist und wohin sie geht. Zudem muss man nur die anonyme Empfängeradresse aus Zahlen und Buchstaben plus den Absender eingeben. Als würde man eine E-Mail verschicken: 30 Bitcoins von XY an ZW am 22.11.2015 um 17.05 Uhr.

Buterin richtet sich an seinem Geländer auf, dreht seinen großen Kopf Richtung Berge. Es ist ein sonderbares Haus, in dem er mit seinen Mitstreitern wohnt, weil alles so sauber und leer ist. Keine Pizzaschachteln, keine Batterien von Red Bull und Cola wie in Hollywood-Filmen, kein schmutziges Geschirr. Selbst auf dem Wohnstockwerk, alles clean, ein einsamer handgeschriebener Zettel hängt an der Wand: Hier kein Geschirr abstellen.

In dem Haus der Blockchain-Programmierer sieht es nicht aus wie im Film – alles ist ordentlich
In dem Haus der Blockchain-Programmierer sieht es nicht aus wie im Film – alles ist ordentlich – Foto: Peter Tillessen

Dieses Haus ist kein Zuhause, sondern reine Notwendigkeit für Menschen, die gar keinen Ort brauchen in dieser Welt, die immer irgendwie Durchreisende sind.

Vor einigen Jahren also installiert sich Vitalik Buterin die Bitcoin-Software. Um Bitcoin zu nutzen, speichert jeder Nutzer zuerst die komplette Geschichte aller je getätigten Bitcoin-Zahlungen. Jeder Computer, der Bitcoin nutzt, unterhält somit ein allumfassendes, von allen einsehbares Kontobuch. Derzeit ist es 45 Gigabyte groß. „Die Idee von Bitcoin ist extrem einfach“, sagt Buterin, „ein Kontobuch für alle.“ Er kann genau sehen, auf welchem Nummernkonto welche Summen liegen – und wohin sie fließen.

Vitalik ist Teil geworden einer gewaltigen Bitcoin-Bank, betrieben von allen Nutzern. Genau darin liegt die Idee zur Umgehung der Finanzunternehmen. Mit diesem globalen Kontobuch kann nichts passieren, keine Fälschung, weil ja auf jedem Rechner eine aktuelle Kopie des Buches liegt. Alle paar Minuten werden alle neuen Überweisungen weltweit verzeichnet und allen Rechnern zugespielt. In komprimierter Form, als sogenannte Blocks. So entsteht im Lauf der Zeit eine Kette von Beweisen – die Blockchain. Würde ein Computer gehackt oder versuchte jemand zu betrügen, es gäbe Millionen Beweise in der Blockchain. Nur deshalb funktioniert das Bitcoin-System. Blocks mit Bitcoin-Transaktionen sind wie an einer Kette aufgereihte Perlen.

Die Blockchain als weltweites dezentrales Buchhaltungssystem wurde Ende 2008 erfunden, von einem mysteriösen Schöpfer, der sich als Satoshi Nakamoto ausgab, dessen Identität aber bis heute unklar ist. In einem neunseitigen PDF veröffentlichte er die Grundlagen – und tauchte nie wieder auf.

Um Bitcoins zu erwerben, begann Buterin 2011 für einen Fachblog zu schreiben, der fünf Bitcoins je Artikel zahlte, was damals umgerechnet einem Stundenlohn von etwa einem Dollar entsprach. Die Schreiberei war optimal, um sich weiter einzuarbeiten.

Bitcoin war als Attacke auf das Finanzsystem angelegt, das zeigte schon der Zeitpunkt, zu dem Satoshi Nakamoto die virtuelle Währung einführte: kurz nach Beginn der Finanzkrise. Die Bitcoin-Gemeinde wuchs damals schnell, zog aber nicht nur Idealisten, Libertäre und Anarchisten an, die von einem neuen Geldsystem träumten, sondern auch Kriminelle, Spekulanten und Hacker.

Wie die Gemeinde wuchs auch der Wert von Vitaliks Bitcoins, und auch sein Einfluss stieg. Immer wenn er ein paar Bitcoins verdient hatte, durchströmte ihn das Glücksgefühl, an einer neuen Welt mitzubauen: einer Welt, frei von den zentralen Hütern des Geldes.

V wie Vitalik

2012, mit 18 Jahren, ist er in der Szene bereits eine führende Stimme. Mit Freunden gründet er das „Bitcoin Magazine“. Auf das Cover der ersten Ausgabe setzt er die Maske des englischen Revolutionärs Guy Fawkes, jene Maske, die auch von den Mitgliedern des Hackernetzwerks Anonymous verwendet wird.

Vitalik Buterin geht auf der Terrasse hin und her. Plötzlich macht er halt und schaut dem Besucher ausnahmsweise in die Augen: „Später habe ich zufällig durch Wikileaks erfahren, dass unser Magazin in einem Bericht des italienischen Geheimdienstes auftauchte.“ Jetzt lacht er tatsächlich.

Bald wird Buterin klar, dass man mit der Blockchain noch mehr machen könnte als Geld. So, wie sie bisher genutzt wurde, war die Blockchain ein digitaler Tresor, in den man Bitcoins steckte. Im Prinzip konnte dieses System aber für jede Art von Wert verwendet werden, egal ob Auto, Haus oder Aktie. Ein dezentrales Verzeichnis für sämtliche Vermögenswerte mit einer sicheren Möglichkeit, diese Werte zu transferieren: Könnte man damit nicht jede Art von Bürokratie abschaffen, die solche Vorgänge erfasst? Grundbuchämter, Notare, ganze Behörden?

„Dass wirklich etwas daraus werden könnte, sah ich auf meiner ersten Bitcoin-Konferenz 2013 in Seattle“, erzählt er und nähert sich dem Besucher bis auf einen Meter. „Da waren richtige Menschen aus Fleisch und Blut, die alle einen ähnlichen Traum hatten.“ Menschen aus Fleisch und Blut. Das hat ihn beeindruckt. Wenn er sich freut, sieht er aus wie ein viereckiger Smiley.

Im Sommer desselben Jahres dann der Schock: Edward Snowden enthüllt, wie die NSA das Internet unterwandert hat. Vitalik Buterin fühlt sich betrogen von seinem besten Freund, dem Internet. Der Kampf für ein freies Netz wird zu einer persönlichen Sache. Kurze Zeit später schmeißt er das Informatikstudium an der renommierten University of Waterloo in Kanada (die Eltern emigrierten von Russland nach Kanada, als er sechs Jahre alt war). Der 19-Jährige geht mit seinem Ersparten auf eine halbjährige Weltreise. Um die Revolution voranzutreiben.

In Tel Aviv begegnet er Software-Entwicklern, die bereits an der Verwirklichung seines Traums arbeiten: Sie entwickeln selbstausführende Verträge, Smart Contracts, die ohne Rechtsabteilungen funktionieren, weil ihre Ausführung durch die Blockchain kontrolliert wird.

Ethereum wird geboren

Doch es gibt ein Problem: Buterin sieht, wie hochtalentierte Programmierer sich abmühen, mit Satoshi Nakamotos Blockchain einfachste Verträge zu programmieren. Er erkennt, dass es Zeit ist, ein Sakrileg zu begehen: Eine neue Blockchain muss geschaffen werden – ein leicht zu bedienendes, dezentrales Register für alles. Und vor allem eines, das leistungsfähiger ist – so wie einst Windows das Betriebssystem DOS ablöste.

Buterin verfasst ein Konzeptpapier, eine Mischung aus Politik, Spieltheorie und Mathematik, und tauft seine Vision „Ethereum“, nach Aristoteles’ Idee vom Äther als einem allgegenwärtigen fünften Element. Auch seine Blockchain soll allgegenwärtig sein und auf allen teilnehmenden Rechnern laufen. Ein Weltcomputer!

Er schickt die Idee an enge Bekannte, in wenigen Wochen hat er eine Nerd-Armee aus hochkarätigen Programmierern beisammen. Viele Mitglieder seines Teams haben steile internationale Karrieren hinter sich.

Die Arbeitsplätze der Revoluzzer – auf dem Flatscreen steht „Ethereum“, der Name des neuen Codes
Die Arbeitsplätze der Revoluzzer – auf dem Flatscreen steht „Ethereum“, der Name des neuen Codes – Foto: Peter Tillessen

Während viele in der Bitcoin-Szene Buterin als Abtrünnigen sahen, wird bald das Silicon Valley aufmerksam. Als erster Peter Thiel, reich geworden mit Investments in Paypal und Facebook. Er hat eine Stiftung gegründet, die Stipendien an digital Hochbegabte vergibt. Bis dahin hatte Buterin noch nie reales Geld verdient. Jetzt erhält er von Thiels Stiftung 100.000 Dollar.

Investoren beginnen, ihn als Wunderkind zu sehen. Alsbald verkündet Buterin, er wolle mittels Crowdfunding Geld sammeln – „für eine dezentralisierte Publikationsplattform mit nutzergenerierten digitalen Verträgen und einer Turing-vollständigen Programmiersprache“. Mit diesem Schwurbel-Pitch stellte er einen Weltrekord im Crowdfunding auf: 18 Mio. Dollar in vier Wochen. Kurze Zeit später gewinnt er den World Technology Award, zu dem Partner wie „Fortune“, „Time“, Nasdaq und Cisco gehören.

Vitalik Buterin, gerade 20 geworden, hat das Silicon Valley erobert. Für ihn ist es erst der Anfang.

Etwa zu dieser Zeit beauftragt er seinen langjährigen Freund Mihai Alisie, den besten Standort für einen Firmensitz zu finden. Digitalwährungen, zu denen Ethereum technisch gehört, sind rechtlich heikles Neuland. Sind sie hochregulierte Währungen? Anlageformen? Eigentumsgegenstände wie ein Haus?

Ende Januar 2014 landet Mihai Alisie auf dem Flughafen Zürich-Kloten. Das Ziel ist die Stadt Zug, in der bereits einige Bitcoin-Unternehmen arbeiteten: Die Gesetzgebung scheint unkomplizierter als anderswo, lokale Politiker lassen mit sich reden. Der Empfang sei warm gewesen, erinnert sich Alisie. Innerhalb eines Monats hat er eine GmbH gegründet mit Sitz in Baar.

Was treibt diesen Vitalik Buterin an? Will er nicht auch eines Tages eine Familie gründen? Buterin fährt sich durchs struppige Haar. „Eher nicht. Ich finde es besser, meine Ideen weiterzugeben als mein Erbgut. Wenn 10.000 Leute meinen Blog lesen, dann ist das doch, als hätte ich 10.000 Kinder.“

Für Banker ist er ein Guru

Dann kehrt er zurück zum Wesentlichen: „Als wir hier die Firma gründeten, dachte ich, wir seien kurz davor, unsere Blockchain zu vollenden.“ In Wahrheit stand noch viel Programmierarbeit bevor. Und der Weg durch die Institutionen. Es wurde für ein paar Monate still um ihn.

Anfang dieses Jahres kamen plötzlich Anfragen von Samsung und IBM. Sie würden seine Software gern ausprobieren. Dann meldete sich das World Wide Web Consortium W3C, ein mächtiges Netzgremium: Man wolle Ethereum in die „Globale Kommission für Zahlungssysteme“ aufnehmen – eine Kommission, in der Google, Telekom, Apple und zahlreiche Großbanken vertreten sind.

Letztere hatten gerade erst begonnen zu verstehen, dass die seltsame neue Speichertechnologie wohl der Grund dafür war, dass aus einem Codehaufen namens Bitcoin, trotz des Widerstandes von Staaten und Banken, in wenigen Jahren ein milliardenschweres Geldsystem geworden war. Und Ethereum, dämmerte es ihnen, war eine Weiterentwicklung dieser seltsamen Technologie.

Die Banken könnten gewaltige Kosten sparen

Als erste Bank sprang die UBS auf. Im April verkündete das Institut die Gründung eines Blockchain-Forschungslabors im Londoner Hochhaus Level 39, einem glitzernden Prestigebau in den Docks. Man experimentiere dort mit Ethereum, erklärt UBS-Cheftechnologe Stephan Murer. Die Blockchain sei ein moderner Tresor – und extrem skalierbar in der Anwendung.

Eines der ersten Projekte auf Grundlage von Ethereum war die Erstellung von „Smart Bonds“. Zudem erwägt die Bank, eine Handelsplattform für Aktien zu bauen, die auf einer eigenen Blockchain basiert.

„Es besteht Potenzial, die Blockchain in Bereichen einzusetzen, in denen sich zwei Partner nicht trauen und die Bank die Absicherung übernimmt“, sagte Murer. „Wie im Trade-Financing. Stellen Sie sich Containershipments vor, bei denen sich die Container, gekoppelt an einen Smart Contract, erst öffnen, wenn eine Zahlung eingegangen ist.“ Denkbar sei auch die Ersetzung komplizierter Clearingstellen. Nicht nur Murer wirkt euphorisiert. Die Banken könnten gewaltige Kosten sparen.

An einem Tag im Herbst sitzt Vitalik Buterin in der Schweizer Botschaft in London. Der Botschafter, eine elegante Erscheinung mit Michael-Caine-Brille, eröffnet den Abend: Heute gehe es um eine „potenziell revolutionäre Technologie“, an der in Zug gearbeitet werde, „im sogenannten Crypto Valley“.

Buterin, in schwarzen Turnschuhen und weißem T-Shirt, ist Hauptgast und wurde in der Mitte des Panels platziert. Zu seiner Linken die Spitzen der Bitcoin-Welt, rechts die Forschungsleiter von UBS und Bank of England. Vor ihm im Botschaftssaal aus dunklem Granit und Holz über 100 Gäste in Anzügen, aufgelockert durch das eine oder andere Deuxpièces. Finanzsektor, Führungsebene. Banken, Versicherer, Anleger, Beratungsfirmen.

Die Stimmung ist aufgeregt. Am Vortag wurde die Gründung des Blockchain-Verbundes bekannt, der mittlerweile zwei Dutzend der weltgrößten Banken vereint. Die Institute stecken in der Zwickmühle: Wenn sie die Technik ignorieren oder gar dagegen ankämpfen, könnten sie hinweggefegt werden. Wenn sie sie nutzen, könnten sie gigantische Kosten sparen – würden sich aber auch von innen auflösen.

Unblutige Revolution

Vitalik Buterin bewegt die Lippen, als flüstere er sich etwas zu. Unter den Zuhörern ist eine junge Frau, ihr Blick folgt jeder seiner Bewegungen. Sie ist nur gekommen, um ihn zu sehen. „Vitalik ist aus einer anderen Welt“, sagt sie. „Ein Alien. Oder eher ein Mensch, der aus der Zukunft gekommen ist. Um zu helfen.“

Gebannte Ruhe, als Buterin sein Projekt erläutert. Er spricht über die Dezentralisierung des Finanzsystems. Die Unabhängigkeit von einzelnen Akteuren und auch von staatlichen Zugriffen auf das neue Netzwerk. Neutralität heißt das in seiner Sprache.

Ein UBS-Vertreter sagt später, man versuche, die Kraft der Blockchain zum eigenen Vorteil zu nutzen. Ganze Geschäftsbereiche könnten automatisiert werden. Der Emissär der Bank of England spricht aus, was viele denken: Die Blockchain verändere alles. Die Bankenwelt werde sich so stark wandeln wie nie in den letzten 400 Jahren.

Nach dem Vortrag fast bizarre Szenen: Es bilden sich Trauben um Buterin, hohe Angestellte von der Fondsgesellschaft Fidelity und von Barclays stehen neben ihm, schauen ihn an wie einen Guru.

Warum werben sie ihn nicht einfach ab? Wenn man ihnen die Frage stellt, fallen Kinnladen runter. Daran haben sie noch gar nicht gedacht. Buterin scheint zu unerreichbar. Als die Veranstaltung vorbei ist, verzieht Vitalik sich hinter eine der Säulen. Er tippt etwas auf Mandarin in seinen riesigen Bildschirm. Kommt wieder hervor. Er sieht jetzt glücklich aus. Die zweite russische Revolution wird unblutig sein.

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